Der Studierendenrat der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg verabschiedete am 23.7.2024 den von der Gruppe Students for Palestine eingebrachten Beschluss, „alles dem Studierendenrat mögliche zu unternehmen, um die Veranstaltung ‚Antisemitismus und postkoloniale Theorie‘ mit Ingo Elbe, welche am 30.7.2024 an der Uni Freiburg stattfinden soll, zu unterbinden. Wenn dies nicht gelingen sollte, möge der Studierendenrat beschließen, ein Statement zu der Veranstaltung zu veröffentlichen. Begründung: Die rassistischen und faschistischen Positionen Ingo Elbes sollten an der Universität Freiburg keinen Raum finden.“ Das Freiburger Bündnis gegen Antisemitismus, welches den Vortrag organisiert hatte, beschreibt in einem Statement, dass in Sitzungen des Studienrats „offen mit Eskalation und Sprengung gedroht“ worden war. (1) Der Vortrag wurde daraufhin in die Israelitische Gemeinde Freiburg verschoben. Diese Entwicklung an der Freiburger Universität hatte sich schon länger abgezeichnet. Bereits am 28.5.2024 verpflichtete sich der Studierendenrat auf Antrag der Students for Palestine dazu, „anti-palästinensischen Rassismus“ zu verurteilen, wozu es in der Antragsbegründung hieß, dass die unbedingte „Forderung nach Anerkennung des israelischen Staats“ solchen Rassismus verstärke. Am 16.7.2024 beantragte zudem das Referat gegen Rassismus, dass Stellungnahmen des Referates gegen Antisemitismus aus den Jahren 2016 und 2017 zur Kritik am Freiburger „Cafe Palestine“ von der Homepage des Studienrates zu löschen seien, da diese „anti-palästinensischen und anti-muslimischen Rassismus“ förderten. (2)
Der von Elbe in seinem Buch Antisemitismus und postkoloniale Theorie – Der „progressive“ Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung kritisierte postkoloniale Antizionismus ist an den Universitäten mittlerweile institutionell gut verankert – dies aber keineswegs so fest, wie die Schilderung der Freiburger Verhältnisse suggerieren mag. Durchsetzen konnte sich der von einer laustarken Minderheit unterstützte Anti-Elbe-Antrag nur deshalb, weil die Mehrheit des Studienrates sich bei der Abstimmung enthielt. Und die zugrundeliegende postkoloniale Theorie ist ebenfalls nicht so stark und alternativlos, wie sie sich selbst gerne darstellt. Müsste sie sich Einwänden stellen, statt Kritiker einfach zu denunzieren, liefe sie Gefahr, in die Defensive zu geraten, was der Anfang ihres Endes wäre. Eben hierin liegen die Gründe für den Hass auf Elbe, denn er nimmt seinen Gegenstand ernst. Er lässt die Protagonisten der postkolonialen Theorie sprechen, ordnet ihr Denken ein und macht sich die Mühe, sie in ihrer grotesken Widersprüchlichkeit, ihrem finsteren Ressentiment vorzuführen. Er fordert seine Zuhörer auf, seinen Fundstücken und ihrer von ihm geleisteten Interpretation kritisch zu begegnen, sich durch die Wucht von Zitat und Erklärung überzeugen zu lassen. Elbe kämpft damit vorwiegend in den Hörsälen als einer, der Zweifel säen will an einer Theorie genannten Ideologie, die auch deshalb so mächtig hat werden können, weil sie unhinterfragt einfach den Ton angibt. Daher der Hass auf Elbe – auf Elbe den Positivisten und deswegen auch Denunzianten.
In ideologiekritischen Kreisen hat der Positivismus traditionell einen schlechten Ruf. Horkheimers klassischer Aufsatz Der neueste Angriff auf die Metaphysik von 1937 sowie Adornos Interventionen im Positivismusstreit der 1960er-Jahre haben – so meint man zu wissen – unmissverständlich gezeigt, dass positivistische Wissenschaft und Philosophie anti-dialektisch und somit für eine Kritik der Gesellschaft ungeeignet sind. Zwar waren viele Positivisten ehrbare Leute – im Umfeld des Wiener Kreises wurde der reaktionäre Gehalt von Heideggers Seinsmetaphysik zum Beispiel durchaus erkannt und in den 1930ern flohen die Wiener vor den Nazis nach England und in die USA. In letzter Instanz läuft das positivistische Weltbild aber auf eine Apologie der kapitalistischen Verhältnisse hinaus und ist daher objektiv reaktionär. Der Grund: Positivisten tragen zwar bienenfleißig einzelne Tatsachen zusammen, – bevorzugt solche, die durch Sinneswahrnehmung gewonnen sind – aber sie sind sowohl unfähig als auch unwillig, diese mittels allgemeiner Begriffe (wie dem des Staates oder des Kapitals) zu genuiner gesellschaftlicher Erkenntnis zu synthetisieren. Letztlich fallen die Positivisten also Kants berühmten Diktum, Anschauungen ohne Begriffe seien blind, zum Opfer.
Die gegebene Darstellung ist selbstverständlich nur eine Karikatur der tatsächlichen Argumente Horkheimers und Adornos. Statt einseitig die dialektische Entwicklung des Begriffs gegen die Beschäftigung mit Einzeltatsachen auszuspielen, nehmen sie die andere Seite von Kants Diktum, Begriffe ohne Anschauungen seien leer, ebenso ernst. Der vom Positivismus ausgehende kritische Impuls wird von Adorno wie folgt gewürdigt: „Wo dialektisches Denken heute […] allzu unflexibel dem Systemcharakter nachhängt, neigt es dazu, das bestimmte Seiende zu ignorieren und in wahnhafte Vorstellungen überzugehen. Darauf aufmerksam zu machen, ist ein Verdienst des Positivismus […]. Hypostasierte Dialektik wird undialektisch und bedarf der Korrektur durch jenes fact finding, dessen Interesse die empirische Sozialforschung wahrnimmt“ (3) Auch Horkheimer konstatiert knapp, dass dem dialektischen Denker empirische Fakten keineswegs egal sein können: „Soweit sich von einer Anschauung zeigen lässt, dass sie mit bestimmten wissenschaftlichen Einsichten unverträglich ist, hat sie in der Tat als falsch und antiquiert zu gelten.“ (4)
Nun war es insbesondere für Geisteswissenschaftler aber stets verlockend, solche Passagen zu übersehen und die Positivismuskritik der Kritischen Theorie als Rechtfertigung dafür anzusehen, sich mit schnöder Empirie gar nicht erst befassen zu müssen. Jean Améry warnte zurecht vor einer allzu bereitwillig aufgenommenen Kritik des Positivismus, welche Dialektik zum Dogma verfallen lässt. (5) Eine Anekdote illustriert, wie die Feindschaft gegenüber dem Positivismus in der Studentenbewegung der 1960er zu einem Ticket mutierte: „Bei einem Vortrag hatten Studenten Améry des ‚Positivismus‘ bezichtigt, ohne freilich zu wissen, was darunter zu verstehen sei: ‚Da kam raus, sie hatten keine Ahnung, was das überhaupt ist, philosophiegeschichtlich. Sie wußten gar nichts vom Positivismus, nichts vom älteren, nichts vom neuen. Positivismus war irgendetwas Böses‘, so Améry.“ (6)
Horkheimers Kritik der logischen Positivisten in Der neueste Angriff auf die Metaphysik ist von den politischen Tendenzen der 1930er-Jahre, insbesondere der grassierenden „Verwaltung der Welt“ durch Monopolbildung und totalen Staat, geprägt. Die in Aldous Huxleys 1932 erschienenen Roman Brave New World beschriebene Dystopie, welche die Bewohner einer totalitär-fordistischen Gesellschaft als so passiv schilderte, dass sie – anders als in George Orwells späterem 1984 – gar nicht erst aktiv unterdrückt werden müssen, hatte Horkheimer tief beeindruckt. In seinem Aufsatz beschreibt er ein „Missgeschick“, das dem Positivismus „leicht passieren“ könne. Dieses Missgeschick liest sich wie eine Paraphrase von Huxleys Welt. Horkheimer skizziert eine Gesellschaft, in der sich positivistische Wissenschaftler darauf konzentrieren, Fakten „über (den) Gehorsam (der Bevölkerung) gegen strenge Verordnungen, ihre Genügsamkeit bei allgemeinem Nahrungsmangel infolge kriegerischer Politik, ihre Passivität angesichts der Verfolgung und Ausrottung ihrer bewährtesten Freunde, ihren Jubel bei öffentlichen Festen und den positiven Ausfall von Wahlen für eine brutale und lügnerische Bürokratie“ zu protokollieren. Solch ein Zustand, so Horkheimer, „gliche einem Tollhaus und einem Gefängnis zugleich, und seine glatt funktionierende Wissenschaft merkte es nicht.“ (7)
Auch nach dem Sieg über den Nationalsozialismus war in den 1950er- und 1960er-Jahren die Angst vor einer jede Regung der Individuen kontrollierenden Bürokratie aktuell. Der „militärisch-industrielle Komplex“, vor dem US-Präsident Eisenhower 1961 warnte, steht exemplarisch für die von Horkheimer 1947 in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft diagnostizierte absolute Dominanz der instrumentellen Vernunft. Eindrückliche Beispiele hierfür sind die RAND Cooperation und das daraus entstandene Hoover Institute. Diese beiden Denkfabriken beschäftigen zahlreiche Wissenschaftler – inklusive namenhafter Logiker und Philosophen – um Strategien für weltpolitische Bedrohungsszenarien, inklusive Schlachtplänen für das Vorgehen im Falle eines atomaren Angriffs der USA, zu entwickeln.
Die hier an den Tag gelegte Ingenuität in zweckrationalem Räsonieren – von Horkheimer als subjektive Vernunft bezeichnet – ist sowohl beeindruckend als auch erschreckend. In seinem breit rezipierten Buch On Thermonuclear War führte Herman Kahn – Leiter des Hoover Instituts und Vorbild für Dr. Strangelove in Stanley Kubricks berühmten Film – die Idee einer alles-vernichtenden „Doomsday“-Maschine ein. Theorien der objektiven Vernunft, die sich „mit der Idee des höchsten Gutes beschäftigten, mit dem Problem der menschlichen Bestimmung und mit der Weise, wie höchste Ziele zu verwirklichen seien“, wurden dagegen keine staatlich geförderten Denkfabriken gewidmet. (8) Der Gedanke, dass vom Standpunkt dieser Vernunft eine atomwaffenfreie Welt die menschlichste wäre, dürfte in Zeiten von McCarthy eher den Verdacht kommunistischer Subversion geweckt haben.
Horkheimers Tod 1973 fällt zusammen mit dem Ende der fordistischen Industriegesellschaft. Die Rolle des Staates und das Verhältnis der Individuen zu ihm hat sich seitdem stark gewandelt. Im postfordistischen Kapitalismus der vergangenen Jahrzehnte wird – statt auf einen die passiven Einzelnen verwaltenden Staat – auf die Aktivierung der Individuen und deren Eigenverantwortung gesetzt. Parallel dazu vollzog sich der Aufstieg postmoderner Denkströmungen, die ebenfalls dem Subjekt die zentrale Rolle geben. Wahrheit und objektive Tatsachen galten nun als veraltet, die Konstruktion der Wirklichkeit durch die Sprache wurde zum herrschenden Paradigma. Solch subjektivistische Tendenzen waren, wie Horkheimer und Adorno zurecht bemängeln, auch den frühen logischen Positivisten nicht völlig fremd. Im Laufe der 1930er-Jahre setzte sich aber ein robust-realistisches Wahrheitsverständnis durch, welches für die vom Positivismus maßgeblich beeinflusste analytische Philosophie in den USA und Großbritannien schulbildend war, und das sich später in den ablehnenden Reaktionen analytischer Philosophen auf postmoderne Denker zeigte. In diesem Sinne ist die postfordistische Epoche auch post-positivistisch. (9)
Angesichts der postmodernen Zeitenwende ist ein allzu unvermittelter Bezug auf die Positivismuskritik der Kritischen Theorie den Verhältnissen nicht mehr angemessen. Die von Horkheimer ausgemalte positivistische Dystopie wirkt heute regelrecht harmlos. Erbsenzählerisch vor sich hin werkelnde Faktensammler, denen der Blick für größere gesellschaftliche Zusammenhänge fehlt, bleiben für Ideologiekritik zumindest ansprechbar. Trotz seiner pessimistischen Grundhaltung dürfte es Horkheimers Vorstellungskraft überstiegen haben, dass eines Tages eine Adorno-Preisträgerin erklären würde, von der Hamas durchgeführte Morde an über 1.000 Israelis seien nicht antisemitisch (10) oder dass eine postkoloniale Theoretikerin konstatiert, es gebe interessante inhaltliche Überschneidungen zwischen der Dialektik der Aufklärung und Sayyid Qutb, dem Vordenker der Muslimbruderschaft. (11) Für diese real existierende Dystopie ist gerade nicht eine zu enge Bindung an partikulare Einzelfakten charakteristisch, sondern umgekehrt eine an Wahn grenzende Abschottung gegen offen zu Tage liegende Tatsachen.
Bei den anti-israelischen Protesten seit dem 7. Oktober 2023 machten – vor allem an Eliteuniversitäten – Gruppen unter dem Slogan Queers for Palestine von sich hören. Kommentatoren reagierten hierauf häufig mit Unglauben und Spott: Können diese selbsternannten Aktivisten wirklich so uninformiert über die Lage im realen Palästina sein, dass ihnen nicht klar ist, wie es dort um die Rechte von Homosexuellen und Transpersonen bestellt ist? Diese Reaktion unterstellt, dass sich das Phänomen durch mangelnde Sachkenntnisse erklären lässt. Ein Blick in die Schriften Jasbir Puars, der Vordenkerin der heutigen Queers for Palestine, zeigt jedoch die Fragwürdigkeit dieser Annahme. In ihrem Buch Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times von 2007 verteidigt sie die These des „Homonationalismus“, laut der die Ansicht, dass die Situation von Homosexuellen in westlichen Ländern besser als in islamischen Ländern sei und dass homophobe Einstellungen unter Migranten weit verbreitet sind, nicht etwa eine realistische Einschätzung der Sachlage, sondern bloß eine von Rechten verbreitete Erzählung sei. Offensichtlich ist es schwierig, Argumente für diese These zu finden, wenn man die Rechtsordnung und Gesellschaftsstruktur real existierender islamischer Länder wirklich unter die Lupe nimmt. Puar vermeidet in ihrem Buch daher solche Betrachtungen konsequent und konzentriert sich nahezu ausschließlich auf die Repräsentation von Muslimen in amerikanischen Medien.
Selbstverständlich kommt Israel, das des „pinkwashing“ der angeblichen Unterdrückung der Palästinenser geziehen wird, bei Puar nicht gut weg. In diesem Kontext kann sie es aber ausnahmsweise einmal nicht vermeiden, doch zu der offensichtlichen Tatsache Stellung zu nehmen, dass Queer-Sein in den Palästinensischen Gebieten eine potenziell tödliche Angelegenheit ist. Zur Erklärung dieses für ihre Theorie unangenehmen Sachverhalts schreibt Puar raunend, dass die eine Art der Unterdrückung – die der Palästinenser durch Israel nämlich – die Unterdrückung von Homosexuellen in palästinensischen Gebieten stützen oder sogar erst ermöglichen könne. (12) Hier ist ein Einfallstor für Kritik: Die Frage, welcher Mechanismus für diesen angeblichen Zusammenhang verantwortlich ist, drängt sich auf. In späteren Schriften weiß Puar solche Ungeschicktheiten aber zu vermeiden. Die Neuauflage ihres Buches von 2017 enthält ein Postskript mit dem Titel Homonationalism in Trump Times, in dem Puar von einer New Yorker Demonstration gegen die Einreisebeschränkungen für eine Reihe mehrheitlich islamischer Länder – inklusive dem Iran – berichtet. Kritiker in den sozialen Medien machten sich über die queeren Demonstranten lustig, da sie Länder unterstützen die, so Puar, „ihrer Ansicht nach LGBTQ-Menschen vergewaltigen, aufhängen und töten würden.“ (13) Einzugestehen, dass die Todesstrafe für Homosexualität im Iran nicht bloß eine Behauptung, sondern eine bewiesene Tatsache ist, ist in Zeiten von Trump offenbar schon eine zu große Gefahr. (14)
Angesichts des Triumphs postmodernen Denkens nicht nur in den Geisteswissenschaften ist Aufklärung und Kritik heute oft eher bei positivistisch arbeitenden Wissenschaftlern zu finden. Neben Ingo Elbe ist der an der Berliner Humboldt Universität lehrende niederländische Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans ein gutes Beispiel hierfür. In seinem 2020 erschienenen Buch Das verfallene Haus des Islam demoliert Koopmans das von Islamapologeten mit stupider Regelmäßigkeit heruntergebetete Mantra „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“. Zunächst konstatiert Koopmans das Offensichtliche: Jede Person die, in Unkenntnis ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung, zwischen einem Leben in einem islamischen und einem nicht-islamischen Land zu wählen hätte, würde – falls sie rational ist – ein nicht-islamisches Land bevorzugen, da das Risiko der Verfolgung und Unterdrückung andernfalls zu groß ist. Diese simple Einsicht ist natürlich auch den Verteidigern des Islam bewusst, weshalb sie darauf insistieren müssen, für die elenden Zustände in der islamischen Welt sei letztlich der Westen verantwortlich. Thesen wie die, dass der Kolonialismus die arabische Welt an der Entwicklung von liberalen Demokratien gehindert habe, sind aber teils empirischer Natur, und mittels einer ganzen Batterie von vergleichenden quantitativen Studien zeigt Koopmans, dass keine Version der „Es liegt nicht am Islam, sondern an X“-These von den Tatsachen gestützt wird. Dabei berücksichtigt er nicht nur die Lage in mehrheitlich islamischen Ländern, sondern auch die Probleme bei der Integration von Muslimen in westlichen Gesellschaften, die gerne mit dem auch Nicht-Muslime betreffenden Faktor Rassismus wegerklärt wird.
Sich für kritisch haltende Studenten sehen traditionell auf quantitativ arbeitende Bereiche der Sozial- und Politikwissenschaft herab. Statistik und mathematische Methoden – so viel meint man von der Ticket-gewordenen Positivismuskritik gelernt zu haben – sind ihrem Wesen nach herrschaftsstützend. Wenn jemand unter Berufung auf Statistiken dann auch noch Kritisches über den Islam und die deutsche Migrationspolitik verkündet, ist eine Intervention vonnöten. Im Januar 2024 wurde ein gegen Koopmans gerichtetes Transparent mit der Aufschrift „Rechte Strukturen beim Namen nennen“ aus dem Raum des Fachschaftsrates Sozialwissenschaft an der HU gehängt. Diese Aktion wurde laut einer Pressemitteilung des RefRats damit begründet, dass Koopmans Arbeit „durch eine einseitige und voreingenommene Darstellung geprägt ist, welche den Nährboden für rassistische Narrative, insbesondere antimuslimische, Ressentiments liefert.“ (15) Unterstützt wurde vom Fachschaftsrat Sozialwissenschaft dagegen eine
„Kritische Orientierungswoche“, bei der man sich im Herbst 2024 – mit FFP2-Maske – einen Vortrag über „Israels extremste Regierung“ anhören konnte. An einem Vortrag zur Kritik des Antisemitismus, den die Gruppe Tacheles angeboten hatte, hatten die Betreiber der Orientierungswoche dagegen kein Interesse. (16) Ohnehin ähneln die politischen Entwicklungen an der HU im Laufe des Jahres 2024 denen in Freiburg. Im November traten zwei Mitglieder des RefRat zurück, da sich dort „massiver Antisemitismus“ breit gemacht habe. Laut deren Statement waren Mitglieder des RefRat beispielsweise an der Besetzung des Instituts für Sozialwissenschaft im Mai 2024 beteiligt, bei welcher die Einrichtung verwüstet und die Wände mit antisemitischen Hassparolen beschmiert wurden. (17)
Ingo Elbes Herangehensweise in Antisemitismus und postkoloniale Theorie ist von der aus dem Positivismus hervorgegangenen analytischen Philosophie inspiriert und erweist sich angesichts des postkolonialen Untersuchungsgegenstand als besonders fruchtbar. Neben den szientistisch veranlagten Positivisten wurde die analytische Philosophie auch von eher sprachkritisch arbeitenden Philosophen wie G. E. Moore, Ludwig Wittgenstein und J.L. Austin geprägt. Deren Ansatz war es, philosophische Äußerungen höchst ernst zu nehmen und dadurch kritisch auf ihren Gehalt zu überprüfen: „Aber was bedeutet dies denn eigentlich?“ wurde zum Leitsatz. Erhaben daherkommende philosophische Thesen, wie die, dass absolute Wahrheit unerreichbar sei, hielten diesem Druck oft nicht stand. Elbe macht sich die Mühe, die argumentativen Verrenkungen, mittels derer postkoloniale Theoretiker seit Jahrzehnten Antisemitismus kleinreden, Kritik am Islam abwehren, und den Holocaust im Vergleich mit kolonialen Verbrechen als relativ unbedeutend darstellen, minutiös zu sezieren.
Postmoderne und postkoloniale Theorien waren seit jeher unter Literaturwissenschaftlern und Kunsttheoretikern beliebter als unter Fachphilosophen. Das ist kein Zufall, denn zumindest bis Anfang der 2000er war man unter letzteren noch nicht bereit, im Austausch für eine rebellische Pose auf eine Prüfung des Sinngehalts von Theorien zu verzichten. Anders als ein Kurator für Gegenwartskunst nimmt Elbe die Vordenker des Postkolonialismus beim Wort, was oft schon ausreicht, um deren Theorien ad absurdum zu führen. Man liest beim Kritiker des „Siedlerkolonialismus“ Lorenzo Veracini zum Beispiel, dass die Palästinenser ein „ontologisches Verhältnis“ zum palästinensischen Land hätten, während die Beziehung der Juden zu dieser Region bloß „historisch“ sei. Doch was, so fragt Elbe, konstituiert ein ontologisches Verhältnis einer Menschengruppe zu einem räumlichen Gebiet? Die einzige Antwort, welche die Unterscheidung nicht zur hohlen Phrase werden lässt, lautet offenbar, dass man schon immer auf dem Gebiet gelebt haben muss. (18)
Der von Judith Butler und Alain Badiou vertretene Antizionismus erweist sich, sobald die leitende Argumentationslinie einmal expliziert ausbuchstabiert wurde, als ebenso widersinnig. Der Antisemit hat Juden traditionell als nicht zum Kollektiv des Volkes oder der Gemeinschaft zugehörige – und damit potenziell zersetzenden – Außenseiter identifiziert. Dieses antisemitische Stereotyp wird im postmodernen Antizionismus philosemitisch umgekehrt: Badiou charakterisiert das Wort „Jude“ als „Inbegriff für Differenz, Unruhe und Bodenlosigkeit […] Der ‚nichtjüdische und damit wahre Jude‘ ist hier Inbegriff für Fluidität oder Transzendierung aller Grenzen und Bestimmungen. Er steht für Diaspora, Zerstreuung und letztlich Überschreitung der eigenen Identität durch gewaltlose Auslieferung an ‚den Anderen’“. (19) Israel, ein Staat mit festen Grenzen der klar zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern unterscheidet, erweist sich somit als dem angeblichen „wahren Wesen“ des Jüdischen zuwider.
Dieser Überlegung liegt eine Fetischisierung des Nicht-Dazugehörens zu Grunde, die sich aus der postmodernen Ablehnung des sogenannten Essentialismus speist. In der Metaphysik wurde traditionell davon ausgegangen, bestimmte Eigenschaften von Substanzen seien essenziell, was bedeutet, dass ein Ding sie besitzen muss, um zu sein, was es ist. Rationalität ist beispielsweise ein gern genannter Kandidat für eine essenzielle Eigenschaft des Menschen. Judith Butler lehnt nun nicht nur diese Auffassung ab, sondern geht noch viel weiter: Laut ihr ist schon die Annahme, dass Allgemeinbegriffe auf einige Dinge zutreffen und auf andere nicht, Ausdruck von Exklusion und Unterdrückung. (20) Dies erklärt die postmoderne Begeisterung für die Konstruktion des Wortes „Jude“ als „paradigm of the erasure or of the overcoming of all predicates.“ (21) Doch die Butlersche Theorie der Begriffe basiert letztlich auf einer Äquivokation. Der Sinn von Begriffen ist es, Unterscheidungen zu treffen, und dies ist nur möglich, wenn manche Dinge eindeutig nicht unter einen bestimmten Begriff fallen. Der Begriff Apfel schließt Äpfel ein und Birnen und Bananen aus, aber anders als Butler suggeriert, lässt sich aus dieser basalen Tatsache keine Unterdrückung irgendwelcher Früchte folgern: Der relevante Sinn von Ausschluss geht nicht mit Abwertung einher.
Als Whig history bezeichnet man im Englischen eine Form der Geschichtsschreibung, bei der sich die historischen Ereignisse teleologisch auf einen als positiv angesehenen Endzustand hin entwickeln. Das paradigmatische Beispiel einer negativen Whig history ist Georg Lukács’ Zerstörung der Vernunft. Hier erweisen sich alle Philosophen nach Hegel als Vordenker des Irrationalismus, deren objektives Ziel es sei, den Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase vor dem drohenden Sieg des Sozialismus zu schützen. Nietzsche gilt ihm zum Beispiel als „Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode“, dessen agnostische Erkenntnistheorie „nur eine der Waffen im Hauptkampf gegen den Sozialismus“ ist. (22)
In seiner Kritik des Postkolonialismus nimmt Elbe auch die postmodernen Quellen dieser Denkströmung, wie etwa Foucaults Anti-Universalismus, ins Visier. Sehr zurecht weist er darauf hin, dass die dank der Dominanz postmoderner Ideen bereits zur vermeintlich unkontroversen Floskel geronnene Behauptung, dass es keine absolute Wahrheit gebe, zur Aporie führt: Ist die relativistische These, objektive Wahrheit sei Illusion, selbst wahr? Falls ja, dann widerlegt sie sich selbst. Falls nein ist sie dagegen eine bloße Meinung ohne polemische Schlagkraft. (23) Wie bei Lukács aber tritt Nietzsche bei Elbe in einer rein negativen Rolle auf: Als Vordenker von Relativismus und der Ablehnung universell gültiger Werte. Dies macht blind für die Stärken von Nietzsches genealogischer Methode, welche die von den Positivisten vernachlässigte Frage nach der Genese unserer Begriffe ins Zentrum der Betrachtung stellt.
In seinem zu Lebzeiten unveröffentlichten Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im Außermoralischen Sinn klingt Nietzsche zugegebenermaßen so, als wolle er sagen, Behauptungen seien ausschließlich aufgrund subjektiver Konventionen wahr, nicht, weil sie etwas in der Wirklichkeit entsprechen. Er beschreibt dort Wahrheit als „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken.“ (24) Elbe zieht hieraus den Schluss, Nietzsche betrachte Erkenntnis als eine bloße Fiktion, die „nicht zur Realität passe und deren Allgemeinbegriffe das Konkrete stets nur vergewaltigen könnten.“ (25) Hierdurch verstricke Nietzsche sich in einen Selbstwiderspruch, denn das Nicht-Entsprechen von Begriff und Wirklichkeit kann schließlich nur der bemängeln, der die Realität bereits so erkannt zu haben meint wie sie wirklich ist. Genau diesen Punkt macht Nietzsche aber in dem von Elbe inkriminierten Aufsatz selbst: „Unser Gegensatz von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge, wenn wir auch nicht zu sagen wagen, dass er ihm nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegenteil. (Hvh. d.A.)“ (26) Bei der Exegese muss also etwas schiefgegangen sein.
Das Problem der Korrespondenz von Aussage und Realität kann auf zweierlei Weisen verstanden werden. Zum einen: Ist eine Aussage wie Die Katze ist unter dem Tisch objektiv wahr oder falsch? Zum anderen: Gibt es einem Sinn, in dem Begriffe wie Katze und Tisch der Struktur der Wirklichkeit entsprechen? Nietzsches Formulierungen legen manchmal zwar die erste Frage nahe, aber letztlich geht es ihm um die zweite. Ziel seiner genealogischen Untersuchungen ist es, herauszuarbeiten, dass die Bildung von Begriffen das Resultat menschlicher Tätigkeit ist, und ihnen daher unabwendbar ein Hauch von Willkür und Subjektivität anhängt. Nietzsches Bemerkung „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ (27) ist daher, anders als Elbe suggeriert, kein Vorläufer von Butlers These, Allgemeinbegriffe seien ihrer Natur nach exkludierend. Sie zielt vielmehr darauf ab, dass unsere Begriffe nicht vorgefertigt einem platonischen Ideenhimmel entnommen wurden, sondern erst mühsam fabriziert werden mussten.
Man muss die positiven Schlussfolgerungen, die Nietzsche aus seiner Beobachtung zieht, und die auf eine vitalistische Verherrlichung der menschlichen Schöpfungskraft hinauslaufen, keineswegs teilen. Aber es wäre ebenso falsch, Lenins unkritischer Wiederspiegelungstheorie aus Materialismus und Empiriokritizismus zu folgen und Nietzsche einen naiven Materialismus, der zur Genesis begrifflichen Denkens einfach schweigt, entgegenzusetzen. Nietzsches Untersuchungen über den Ursprung der Moral werden oft als Widerlegung universeller moralischer Werte gelesen, nach dem Motto: Da moralische Begriffe irdischen Ursprungs sind, können sie nicht den universellen Geltungsanspruch haben, mit dem sie auftreten. Adorno hingegen kritisiert diese skeptische Lesart von Nietzsche, welche auf der platonistischen Annahme „Nichts Gewordenes soll wahr sein können“ beruht als „Prototyp von verdinglichendem Denken“. Für ihn ist es Nietzsches Verdienst, gezeigt zu haben, dass die Antithese zwischen „den Positionen der Relativität, also der Position, die alles als ein bloß Gewordenes und Vergängliches betrachtet, und der, die man herkömmlicherweise mit Absolutismus, also (als Position) mit absolutem, objektivem Wahrheitsanspruch bezeichnet“, nicht aufrechterhalten werden kann, da „die beiden Momente des Genetischen und des objektiv Wahren ohne einander nicht gedacht werden können.“ (28)
Die Frage nach dem Verhältnis von Genesis und Geltung ist keine rein akademische. Um dies zu sehen sei an eine legendäre Debatte über Marxismus und Mystizismus in der Zeitschrift Prodomo von 2007 erinnert. Damals hatte Elbe die Wertkritik der Initiative Sozialistisches Forum als obskurantistischen Mystizismus kritisiert, woraufhin Joachim Bruhn Elbes positivistische Marx-Lesart als Studentenfutter, dem man den „Angstschweiß von Prüflingen“ ansähe, attackierte. Andere „anti-akademische“ Autoren folgten Bruhn in der Debatte, doch deren Vorwürfe – wie der, dass der Positivist Hans Albert Wehrmachtsleutnant gewesen war, oder dass Elbe der Theologie einen rationalen Gehalt abspräche – waren mitunter weit hergeholt und konnten von Elbe leicht pariert werden. Der zentrale Dissens wurde in einem Abschlussstatement der Redaktion Prodomo prägnant zusammengefasst: „Unsere Kritik richtet sich gegen (Elbes) Begriff von Wissenschaft bzw. gegen die Vorstellung, man könne den Kapitalismus einerseits als vernünftige und begrifflich vollkommen durchsichtige Veranstaltung darstellen und anderseits von außen eine Norm an diese herantragen, die diese negiert. Indem Elbe dies tut, vertritt er einen moralischen Dezisionismus. Woher die Norm kommt, für die er sich entscheidet und die er „vorschreiben möchte“, bleibt dunkel. […] Warum der Kapitalismus nicht sein soll, ist für Elbe eine Frage, die mit der Analyse des Kapitals nichts zu tun hat.“ (29)
Elbe betrachtet die strikte Trennung der deskriptiven Ebene – wie funktioniert die kapitalistische Gesellschaft? – von der normativen Ebene – wie soll eine Gesellschaft beschaffen sein? – als theoretischen Vorteil. Für Bruhn ist Marx’ kategorischer Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, durch die objektive Unvernunft des Kapitalverhältnisses selbst erwiesen. Hierein sieht Elbe den Versuch einer „naturrechtlichen“ Ableitung des Sollens aus dem Sein, dessen Kohärenz und Motivation fragwürdig sind. Statt als Resultat eines Beweises betrachtet Elbe den Marx’schen Imperativ als Ausdruck einer „menschliche Entscheidung […] die sich auf empirische Möglichkeiten“ stützt. (30)
Mit seiner scharfen Trennung zwischen deskriptiv und normativ ist Elbe ganz auf der Linie der Wiener Positivisten um Rudolf Carnap. Unzweifelhaft hat dies theoretische Vorteile, nur: Die bereits zu Beginn erwähnte Beschwerde, dass die Wiener ihre progressiven politischen Positionen nur „durch Zufall“ akzeptieren, nicht als Resultat von philosophischen Erwägungen, lässt sich nun kaum mehr von der Hand weisen. Wenn die Wahl zwischen verschiedenen normativen Prinzipien bloß eine rein subjektive Entscheidung jedes Einzelnen ist, droht Marx’ kategorischer Imperativ zu einer bloßen Meinung unter Vielen reduziert zu werden. Ein solcher Voluntarismus aber steht im Gegensatz zu Elbes empathischer Verteidigung universalistischer Prinzipien im Postkolonialismus-Buch.
Adornos Reflexionen über Genesis und Geltung zeigen, dass der Vorwurf des Dezisionismus auf einem falschen Dilemma beruht: Der Annahme, normative Urteile könnten entweder unmittelbar aus Tatsachen abgeleitet werden, oder müssten andernfalls den Tatsachen als reine Ideale abstrakt gegenüberstehen. Für Adorno liegt der Wert von Nietzsches Methode darin, dass sie aufzuzeigen vermag, wie deskriptive und normative Momente der Begriffsbildung miteinander verzahnt sind. Sein Beispiel sind die „Stammbegriffe des bürgerlichen Denkens, wie etwa der Begriff der Freiheit.“ Diese entsprangen den historischen Umständen des Feudalismus, in denen Einige frei über ihr Land verfügen konnten und nicht an ein bestimmtes Stück Boden gebunden waren. Einmal geprägt wohnt dem Begriff ein normativer Überschuss inne, denn „nachdem einmal dieser Begriff der Freiheit zunächst im Sinn eines Privilegs einer bestimmten Gruppe von Menschen zugesprochen worden ist, war es in der Logik dieses Begriffs selbst gelegen, dieser Freiheit nachzugehen, zu fragen, woher ihre Beschränkung nun herrühre, und sie schließlich gegen die zu wenden, auf die sie beschränkt geblieben ist.“ (31)
Adornos und Horkheimers Kritik an der zu naiven Begriffskonzeption der Positivisten bleibt somit durchaus aktuell. Eine ideologiekritische Aneignung ihrer Positivismuskritik kann heute jedoch nur darin bestehen, über detaillierte Auseinandersetzung mit dem Material hinauszugehen – nicht etwa darin, die oft unangenehmen Mühen der Ebene zu scheuen, welche die Beschäftigung mit postmodernen Theorien mit sich bringt. Letztere mit einem Streich einfach beiseite schieben zu wollen, wäre kein Beitrag zur Ideologiekritik, sondern selbst pseudodialektische Ideologie.
Benjamin Marschall (Bahamas 96 / 2025)
Frühere Aktivitäten sind im Aktuell-Archiv aufgeführt. Dort gibt es auch einige Audio-Aufnahmen.
Alle bisher erschienenen Ausgaben der Bahamas finden Sie im Heft-Archiv jeweils mit Inhaltsverzeichnis, Editorial und drei online lesbaren Artikeln.