Titelbild des Hefts Nummer 94
#zusammenland: Eine Islamisierung findet nicht statt
Heft 94 / Frühjahr 2024
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The Zone of Interest

Wie in einem oscarprämierten Film aus Auschwitz ein Geräusch über die Juden wird

Über Rudolf Höß und sein angebliches Doppelleben als Vollstrecker des Holocaust und liebevoller Familienmensch ist seit Jahrzehnten alles bekannt. 1953 erschien Robert Merles Schlüsselroman Der Tod ist mein Beruf, der unter anderem auf öffentlich zugänglichen Notizen fußt, die Höß im Kriegsverbrechergefängnis verfasst hatte. 1956 erschienen Bilder des gemütlichen Herrn Höß mit Frau und Kollegen in Alain Resnais’ Film Nacht und Nebel. Die Zeugenaussage des Gefängnispsychologen Gustav M. Gilbert, der in Nürnberg lange mit Höß gesprochen hatte, beim Eichmannprozess 1961 hat die Runde gemacht. In Deutschland erschienen unter dem Titel Kommandant in Auschwitz 1963 die autobiographischen Aufzeichnungen von Höß bei DTV. Spezifisch deutsch wird es 1977, als der Film Aus einem deutschen Leben von Theodor Kotulla nach Robert Merles Roman mit Götz George in der Hauptrolle in die deutschen Kinos kam. In einer auf Wikipedia zitierten Rezension dieses Films, die im Dezember 1977 in der katholischen Zeitschrift Filmdienst erschienen ist, heißt es: „Die Austauschbarkeit von Kollektivdenken und Feindbild wird durch die emotionslose, auf Kern und Mechanik solcher ‚Bewegung‘ zurückführende psychohistorische Analyse Kotullas erschreckend deutlich. Politisch-moralische Oberflächlichkeit und Gedankenflüchtigkeit eines irrational zum Höchstwert an sich verallgemeinert propagierten Sinnes für ‚Ruhe, Ordnung und vor allem Sauberkeit‘ – unter diesem Vorwand wurden in Auschwitz täglich bis zu 9.000 Menschen in den ‚Duschraum‘ geschickt – erscheint in Kotullas Film zu Recht als die Hauptursache des totalitären Machtmissbrauchs, wie er deswegen mit verschiedenen Formen und ideologischen Vorzeichen weiterhin weltweit offen oder versteckt zu funktionieren vermag. Insoweit ist diese an Tatsachen orientierte Fiktion ein Lehrstück, das jeder Pädagoge, erst recht jeder Geschichtslehrer mit der Jugend ausein­andersetzen sollte.“ Der pädagogische Gehalt lag schon damals darin, dass Auschwitz lediglich die Kulisse für verblasene Grübeleien über des Menschen Verantwortung für sein Tun in Zeiten der Unfreiheit abgab. Im Jahr 1982, wenige Monate bevor die Gruppe Ideal mit „Keine Heimat, wer schützt mich vor Amerika?“ einen Hit landete, hat Oskar Lafontaine die bis heute gültige Nutzanwendung der Causa Höß geliefert, als er im Zusammenhang mit der Debatte über den NATO-Doppelbeschluss sagte: „Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. [...] Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben“. An den Tugendauffassungen eines deutschen Kanzlers, der als Oberleutnant der Wehrmacht an der Ostfront tätig war und 1981 in Saudi-Arabien „in Zusammenhang mit Auschwitz von ‚dem ganzen moralisch-historischen Gepäck‘ sprach, das die deutsche Außenpolitik in Europa präge, wohingegen die arabischen Völker so ziemlich die einzigen [seien], die mit den Deutschen keine negativen Erfahrungen gemacht haben“ (Jüdische Allgemeine, 9.7.2013), wäre schon einiges auszusetzen gewesen. Daran aber hatte der linke Flügelmann der SPD und bis heute bekennende Antizionist Lafontaine keinen Anstoß genommen. Konzentrationslager, das hat man gelernt, sind Einrichtungen der Amerikaner wie in Abu-Ghuraib oder ihrer Satrapen, von denen einer, nämlich Israel, seit Jahrzehnten das größte KZ der Welt betreiben würde. „Schauen wir uns die Bedingungen im Gaza-Streifen an: Das ähnelt immer mehr einem großen Konzentrationslager“, hatte vor 15 Jahren der Kurienkardinal Renato Martino in einem Interview gesagt (Spiegel, 9.1.2009). Zu Mittätern, so hat man gelernt, werden wir alle, wenn wir uns nicht der Frage stellen: „Wie können wir Widerstand leisten?“ Es geht vor allem dann um die Warnung vor „totalitärem Machtmissbrauch“, der „mit verschiedenen Formen und ideologischen Vorzeichen weiterhin offen oder versteckt zu funktionieren vermag“, wenn Auschwitz Gegenstand postmoderner Kunstproduktion wird. Wer die Macht missbraucht, ist von vorneherein ausgemacht und die bohrende Frage, ob wir alle nicht längst Mittäter an mit Auschwitz vergleichbaren Verbrechen geworden seien und am Ende gar ein kleiner Rudolf Höß in uns stecke, darf niemals fehlen.

Oscar als Appell zur Shoa-Relativierung

Am 11. März 2024 wurde an Jonathan Glazer für The Zone of Interest der Oscar für den besten internationalen Film verliehen. Für einen Film also, der kein Film über den Holocaust sein will, sondern den Holocaust ins Heute überträgt und den gewaltsamen Tod von Millionen Juden mit allen möglichen großen und kleineren Verbrechen austauschbar macht. Hierbei ist die Definition von „Verbrechen“ an keine um Objektivität bemühte Kriterien mehr gebunden, sondern wird den Assoziationen des Publikums überantwortet. Der Oscar ist im Fall von The Zone of Interest keine Anerkennung für eine künstlerische Leistung, sondern eine Empfehlung, die beinahe vollendete Vernichtung der europäischen Juden mit ihr vermeintlich ebenbürtigen, von Juden begangenen Verbrechen an den Palästinensern gleichzusetzen. Der Regisseur Jonathan Glazer hat in seiner Dankesrede zunächst für sich und sein Team aufgesagt, was gesagt werden muss, wenn Künstler heute von Auschwitz reden: „Alle unsere Entscheidungen wurden getroffen, um uns in der Gegenwart zu reflektieren und zu konfrontieren. Nicht um zu sagen: Schaut, was sie damals getan haben, sondern, schaut, was wir heute tun. Unser Film zeigt, wohin die Entmenschlichung in ihrer schlimmsten Form führt, sie hat unsere gesamte Vergangenheit und Gegenwart geprägt.“ Entmenschlichung ist das Schlüsselwort und wird bezeichnenderweise ausschließlich auf die Täter angewendet und nicht auf jene, denen erst die bürgerliche Existenz, dann der kümmerliche Rest von Menschenwürde und schließlich nach Rasur, Tätowierung, grotesker Einheitskostümierung und Aushungerung noch die Menschenähnlichkeit entzogen wurde, bevor sie in die Gaskammern getrieben wurden. Dieser europaweit penibel vollzogene Prozess des Erfassens, Stigmatisierens, Selektierens, Konzentrierens und Ermordens von sechs Millionen Menschen wurde entlang von Kriterien vollzogen, die sich die Täter eigens ausgedacht haben, um nicht etwa alle Kommunisten, oder Intellektuellen oder Schwulen zu ermorden, sondern um d i e Juden, unabhängig davon, was die Betroffenen vom Judentum hielten, zu vernichten. Das macht den Holocaust einzigartig und unterscheidet ihn vor allem deshalb von der Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern in den Jahren 1915/1916 durch die osmanischen Türken und auch von dem Genozid an 800.000 Tutsis durch die Hutus in Ruanda im Jahr 1994, weil im Holocaust kein Entrinnen möglich war. Glazer hatte aber noch mehr zu sagen. Unter tosendem Beifall warnte er als Jude vor einem jüdischen Auschwitz: „Jetzt stehen wir hier als Männer, die ablehnen, dass ihr Jüdischsein und der Holocaust von einer Besatzung gekapert wurden, die für so viele unschuldige Menschen zu einem Konflikt geführt hat. Ob die Opfer des 7. Oktober in Israel oder des andauernden Angriffs auf Gaza, alle sind Opfer von Entmenschlichung. Wie können wir Widerstand leisten?“ (Der Standard, 19.3.2024)

The Zone of Interest – kein Film über die Shoa

Leute mit einem Judenproblem warnen immer inständig davor, bloß das Werk nicht mit den möglicherweise „problematischen“ ideologischen Einlassungen des Urhebers in einen Topf zu werfen. Die Autoren werden im Folgenden nachweisen, dass Jonathan Glazers Einlassungen bei der Preisverleihung aus dem Jahr 2023 durchaus zutreffend der Konzeption und Ausführung des Werkes selber entsprechen, mithin The Zone of Interest ein antisemitischer Propagandafilm für die gebildeten Stände ist.

Die frei adaptierte Handlung bezieht sich auf das gleichnamige Buch des britischen Schriftstellers Martin Amis, dessen Titel eine schlüpfrige Doppeldeutigkeit sein soll. Dieser 2014 erschienene, provokante und oft zotenhaft-erotische Roman, der offensichtlich in Auschwitz spielt, das aber unerwähnt bleibt, erzählt von einer fiktiven Liebesgeschichte eines SS-Manns zur Frau des Lagerkommandanten. Deren Zones of Interest beschreibt Amis im englischen Original häufig mit (teils falsch geschriebenen) deutschen Wörtern, sodass sich die Begeisterung bei deutschen Verlagen wenig überraschend in Grenzen hielt. Eine zentrale Figur im Buch ist der jüdische Häftling Szmul, der als der „traurigste Mann im Lager“ geschildert wird. Martin Amis ist es nicht mehr möglich, eine Meinung zur Adaption seines Buches für einen Film, in dem kein Jude vorkommt, abzugeben; er starb am Tag der Weltpremiere. The Zone of Interest erzählt ganz konventionell im Stil des um Realismus bemühten Erzählkinos von der Familie Höß, deren Oberhaupt Rudolf von 1940 bis 1943 Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz war. Die Hauptrollen spielen die beiden deutschen Schauspieler Christian Friedel als Rudolf Höß und Sandra Hüller als dessen Ehefrau Hedwig. Die internationale Koproduktion zwischen dem Vereinigten Königreich, Polen und den USA wurde im Mai 2023 beim Internationalen Filmfestival von Cannes uraufgeführt. Bei der Oscarverleihung 2024 erhielt The Zone of Interest den Oscar für den besten internationalen Film und den für den besten Ton, den Tondesigner Johnnie Burn und Tonmischer Tarn Willers beigesteuert haben. Die Tonspur des Films spielt neben den Darstellern eine Hauptrolle, weil sie die visuelle Abwesenheit der Opfer der Tötungsmaschinerie Auschwitz durch eine Geräuschkulisse ersetzt. Tag und Nacht sind Schüsse, Hundegebell, das Gebrüll des Wachpersonals sowie die Schmerzensschreie der KZ-Insassen zu hören. Die Filmmusik des Musikers und Komponisten Mica Levi ertönt nur ausnahmsweise und orientiert sich an Hanns Eislers großer Musik zum Dokumentarfilm Nacht und Nebel über nationalsozialistische KZs und Vernichtungslager, an die sie jedoch nicht annähernd heranreicht. Erst zum Abspann darf Levi sechs nervtötende Minuten lang einen Engelsgesang zum Technobeat aufspielen, der wie die gelegentlichen Einblendungen von kurzen Sequenzen während des eigentlichen Films in grellem Rot, später in Schwarz, oder ganz am Anfang in undurchdringlichem Grau, maßgeblich zur behaupteten Emotionalität des Films beitragen soll, die von Kritikern und Publikum gleichermaßen gelobt wird.

Zu sehen sind Szenen aus dem Leben des Ehepaars Höß und der fünf gemeinsamen Kinder, die in einer Villa mit Garten direkt hinter der Lagermauer wohnen. Die Mauer darf in dem zähen Gebilde, das nur dank des überlangen, angeklebten Abspanns auf Spielfilmlänge kommt, niemals fehlen. Sie scheidet die Welt der Täter bzw. Profiteure des Unrechts vom ummauerten Bezirk des Unsagbaren und eben auch Ungenannten, in den jeder hineindenken soll, was ihn gerade so bewegt. Merkwürdig ist nur, dass nahezu das gesamte Publikum ganz spontan auf die genau gleiche Assoziation verfiel. Haus und Garten sind groß und gepflegt, es gibt ein Gewächshaus, einen Garten-Pavillon und ein Swimmingpool. Der „Paradiesgarten“, den Hedwig Höß liebevoll pflegt, wird zwar immer wieder von der Asche aus den Krematorien des Konzentrationslagers durchweht, doch das Leben bleibt geruhsam. Den Bewohnern gelingt es, so die Botschaft, das Leid, das nebenan ertragen werden muss, und das Rudolf Höß maßgeblich zu verantworten hat, auszublenden, obwohl in die Spießeridylle immer wieder Beweise für das Grauen nebenan eindringen. Bei einer sonntäglichen Bootsfahrt am nahen Fluss findet Papa Höß einen nicht völlig verbrannten menschlichen Kieferknochen im Wasser, weswegen er sofort nach Hause läuft, wo die Kinder gründlich gewaschen werden. Hedwig freut sich über die Inhalte der Koffer von enteigneten Jüdinnen, dreht sich vor dem Spiegel in einem geplünderten Pelzmantel und benutzt die Lippenstifte von Frauen, die auf der anderen Seite ihres Gartens vergast werden. Höß liebt sein Pferd und seine Kinder und entdeckt, dass Zyklon B das perfekte Mittel zur sauberen Menschenvernichtung ist. Eine glückliche Familie im Auschwitz der Nazizeit, die anscheinend befähigt ist, alles erfolgreich zu verdrängen. Die Frage, ob sie womöglich gar nichts verdrängt haben, sondern der Judenvernichtung hinter der Mauer aus Überzeugung zustimmten und lediglich nicht mit „Details“ belästigt werden wollten, bleibt ausgespart. Der Film wiederholt, was in der bekannten Höß-Saga seit den 1950er Jahren genauso bereits erzählt wurde oder schon angelegt war, obwohl es nicht stimmt. Die drei ältesten Höß-Kinder waren 1940 beim Bezug der Villa in Auschwitz zehn, acht und sieben Jahre alt; sie lebten dort drei Jahre. Kinder beobachten und fragen. Die Ehefrauen der SS-Leute aus der Siedlung wussten schon deshalb Bescheid, weil der Gestank aus den Krematorien Belästigung und deshalb Gesprächsthema gewesen sein muss. Man hätte sich rasch von dort wegbewerben können, das war möglich, doch man blieb. Sie alle hielt ein Konsens zusammen, der sich aus den Aussagen und Notizen von Höß leicht erschließen lässt. Über seine Untergebenen schreibt er: „Die meisten der Beteiligten traten oft bei den Kontrollgängen durch die Vernichtungsstellen an mich heran, um ihre Bedrückung, ihre Eindrücke an mich loszuwerden, um durch mich beruhigt zu werden. Aus ihren vertraulichen Gesprächen hörte ich immer und immer wieder die Frage heraus: Ist das notwendig, was wir da machen müssen? Ist das notwendig, dass Hunderttausende Frauen und Kinder vernichtet werden müssen? Und ich, der ich mir unzählige Male im tiefsten Innern selbst die Frage gestellt, musste sie mit dem Führer-Befehl abspeisen, damit vertrösten. Ich musste ihnen sagen, dass diese Vernichtung des Judentums notwendig sei, um Deutschland, um unsere Nachkommen für alle Zeit von den zähesten Widersachern zu befreien.“ (Kommandant in Auschwitz, München 1963, hier zitiert nach Wikipedia-Eintrag Rudolf Höß). Was für die Untergebenen gilt, muss auch für die Frauen und älteren Kinder gegolten haben. Der Verweis auf den Führerbefehl ist zweitrangig und spielte lediglich eine Rolle danach: in der Selbstverteidigung der Täter und im jämmerlichen Feuilleton-Gestammel über Befehlsnotstand, Widerstandsrecht, Verführbarkeit und so weiter, das mit dem Prozess gegen Adolf Eichmann einsetzte. Zentral bleibt, dass der Führerbefehl vom historischen Personal deshalb nicht in Frage gestellt wurde, weil die Botschaft, dass das Judentum zu vernichten sei, um Deutschland von seinem zähesten Widersacher zu befreien, allseits geteilt wurde. Eine harte, schmutzige, aber eben für alle Deutschen überlebenswichtige Arbeit, bei der es nicht leicht gewesen sei, persönlich anständig zu bleiben, wie Höß und Himmler betonten. Diese Überzeugung teilten nicht nur die Bewohner der SS-Siedlung und doch kommt das einen ganzen Auschwitzfilm lang nicht vor.

Jonathan Glazer wurde 1965 in London geboren und ist jüdischer Abstammung. Der ehemalige Werbefilmer gab sein Langfilm-Regiedebut im Jahr 2000 mit dem Film Sexy Beast, einem Thriller, es folgten zwei weitere Spielfilme, 2004 Birth, ein Mystery Drama und 2013 Under The Skin, ein Science-Fiction-Thriller, bevor The Zone of Interest entstand und damit das bislang erfolgreichste, meistbesprochene und erste Werk Glazers, das sich einem dezidiert politischen Inhalt widmet. Wenige Tage nach dem Kinostart von The Zone of Interest wurden in den sozialen Medien Stimmen laut, die Glazers Film nach Gaza exportierten.

Der Schweizer Blick (29.2.2024) berichtet zum Beispiel über die Gaza-Vergleiche, die rund um die Berlinale für Aufsehen sorgten. „Es ist überaus interessant, zu beobachten, wie Glazers Film im Nachgang zur Antisemitismus-Diskussion an der Berlinale in Deutschland aufgenommen wird. Dort hat ein Instagram-Account des Festivals ein Bild des zerstörten Gaza gepostet – und es mit dem Schriftzug The Zone of Interest versehen.“ Jonathan Glazer hat sich dazu nicht direkt geäußert, nahm aber bei der Oscarverleihung positiven Bezug auf die Vergleiche, die antisemitisches Denken perfekt bedienen. Bei der Berlinale, wie bei der Oscarverleihung gab es für solche Statements erleichterten Applaus. Der Zynismus, mit dem Glazer bei seiner Dankesrede betonte, dass sein Film zum Nachdenken über das Handeln in der Gegenwart anregen möge, ist offensichtlich, weil er die Besonderheit der Opfer der Shoa in seiner Rede genauso wenig erwähnte wie in seinem Film. In einem Interview mit dem Guardian gab Glazer auch zu, dass er die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden wollte: „Für mich ist es kein Film über die Vergangenheit. Er versucht, über die Gegenwart zu sprechen, über uns und unsere Ähnlichkeit mit den Tätern, und nicht über unsere Ähnlichkeit mit den Opfern“. War das sein Ansinnen und der Grund, warum es in The Zone of Interest keine Gewalt und keine Opfer zu sehen gibt? Offensichtlich hat Glazer die Opfer der Shoa hinter der Mauer versteckt, um sie austauschbar zu machen.

Eine Zone of Interest, auf Deutsch „Interessensgebiet“, wurde die abgelegene Gegend im besetzten Polen, zwischen den Flüssen Sola und Weichsel nahe der Stadt Auschwitz genannt, in der das größte Vernichtungslager errichtet wurde. Von 1941 bis zum Kriegsende wurden dort auf einer circa 40 Quadratkilometer großen Fläche etwa 1,3 Millionen Menschen ermordet. Eine Million Juden, damit ein Sechstel der Opfer der Shoa, sowie eine große Zahl von Roma, Sinti, Kriegsgefangenen und anderen, deren Leben von Hitler und seinen Schergen als unwert erachtet wurde, haben hier in der Zeit von 1941 bis 1945 ihr Leben auf grausamste Art verloren.

Ideologische und primitive Universalisierung

Geschichtsbewusstsein und die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit wird seither auf unterschiedlichste Art eingefordert. Filme, Zeitzeugen, Bücher, Dokumente, Museen, Schulbücher versuchen diese Zeit zu beschreiben und fordern dazu auf, „niemals zu vergessen“. Mit den Jahren wurde im deutschsprachigen Raum, vom AfD-Spektrum, aber auch seitens des weit einflussreicheren postkolonialen linken Milieus der Ruf nach einer anderen, weniger verengten, ja globalen Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit lauter. Man entdeckte neue Tätergruppen und andere, bislang vernachlässigte Genozide und will nicht mehr dauernd auf die Beschäftigung mit der Vernichtung der europäischen Juden festgelegt werden. Der Nationalsozialismus ist wie der Holocaust Geschichte und Geschichte ist etwas Altes. Man möge doch nach vorne schauen und endlich die vielen Massenverbrechen seit der Kolonialzeit adäquat berücksichtigen, tönt es aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Deutschland begreift sich als ein Land der Überlegenen, das aus den Gräueltaten der Vergangenheit gelernt hat und sich deshalb umso entschlossener für moralische Prinzipien einsetzt. Die Erzählungen von Auschwitz dienen als Mahnung aus der Vergangenheit, aber mit Kollektivschuld will man nichts zu tun haben. Die Behauptung, dass die Deutschen einem Kollektivschuldvorwurf ausgesetzt seien, gehört zwar zur rechten Rhetorik, die sich gegen die Behauptung, dass die Deutschen ein Tätervolk wären, immer gewehrt hat. Martin Hohmann, ein ehemaliger CDU-Politiker, der später zur AfD wechselte, ging 2003 in einer Rede zum Tag der Deutschen Einheit sogar so weit, den Terminus „Tätervolk“ auf die Juden selbst zu projizieren und wurde damit zum Trendsetter für eine ganz andere, linke Szene. Mit seiner Universalisierung des Holocaust folgt Glazer der Hohmann-These in postkolonialer Manier. Scheinbar ist jeder Bewohner westlicher Länder Täter. Tätervolk aber gibt es nun, seit den Deutschen dieser Vorwurf erspart wird, nur mehr eines.

Die Möglichkeiten, die Shoa zum Gegenstand eines traditionellen Spielfilms zu machen, haben sich erschöpft, schon weil Serien wie „Holocaust“ oder Filme wie „Schindlers Liste“ die Dimension des Verbrechens nicht erfassen konnten und gegen die eigene Intention verharmlosend wirkten. Jonathan Glazer witterte seine Chance und gab vor, aus Auschwitz, der Zone of Interest der Nazis, ein ganz eigenes Kunstwerk zu schaffen. Dabei war ihm wohl bewusst, dass er die KZ-Geschichte anders aufziehen muss, um erfolgreich zu sein. Kein „normaler“ Film über das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit sollte entstehen, sondern ein anderer, neu gedachter und geschickt umgesetzter Holocaustfilm. Ein solcher Plan erfordert eine gelungene Rezeptur nach dem „Weniger ist Mehr“-Prinzip. Weg mit dem Schindler-Kitsch, der Spielberg-Melodramatik, weg aber auch mit den Fakten, weg mit dem Vorzeigen von Opfern, also vor allem: weg mit den Juden. Her mit dem Jetzt, in das sich alles projizieren lässt und das dem Publikum Raum für eigene, an der Aktualität ausgerichtete Interpretationen gibt. Natürlich möchte Glazer nicht an die rechte Rhetorik gegen die Kollektivschuld anknüpfen, das beweist die Auswahl und Inszenierung seiner Darsteller, die mit gekonntem Make-up-, und Kostümdesign exakt den tradierten Bildern von arischen Frauen, Männern und Kindern entsprechen. Damit ist das postkoloniale linke Milieu einverstanden, weil Glazer Böses in einem deutschen Spießertum entdeckt, von dem man zu wissen glaubt, dass es, devot vor seinen Herren bei gleichzeitiger Inszenierung des eigenen, natürlich geschmacklosen Glücks im Winkel, zu allem fähig ist. Je weiter die konkreten Opfer entrückt werden, je weniger von Juden und dem Antisemitismus überhaupt die Rede ist, desto deutlicher drängt sich auf, dass hinter den schuldverstrickten Statisten das gnadenlose, aber unpersönliche Wesen des Kapitalismus am Wirken ist, das vor nichts zurückschreckt.

Die erwähnte Geräuschkulisse im Film ist anwendbar auf viele Orte, an denen Menschen gequält und ermordet werden. Damit diese Übertragbarkeit erhalten bleibt, wird von denen vor der Mauer nicht benannt, wer die Opfer hinter der Mauer sind. Nur eine Szene im Film folgt diesem Schema nicht ganz. Es ist jene, in der Hedwig Höß ihrer zu Besuch gekommenen Mutter lachend erzählt, dass ihr Rudolf sie die „Königin von Auschwitz“ nennt und die Mutter sich in Überlegungen ergeht, ob die Jüdin, bei der sie vor dem Krieg geputzt hat „jetzt vielleicht auf der anderen Seite der Mauer“ sei. Zugleich ärgert sie sich darüber, dass es ihr nicht gelungen sei, nach der Deportation dieser Frau deren schöne Vorhänge zu ergattern. Die vor allem von Götz Aly erforschte Aufteilung der Beute aus den „Judenwohnungen“, aber auch die Vergabe dieser Wohnungen an die zahlreicher werdenden „Ausgebombten“ unter den Nachbarn und anderen Profiteuren erfüllt hier den einzigen Zweck, die Schäbigkeit der Spießer und Mitmacher zu beleuchten und unterschlägt dabei den Umstand, dass das militärisch angezählte Dritte Reich längst vor der jüdischen Rache warnte, nach innen für die Notwendigkeit der Endlösung warb und möglichst viele zu Mittätern, z.B. durch die Aneignung des Hausrats der Deportierten, machte, damit es kein Zurück geben würde.

Die Recherche ergibt, dass Hedwig Höß einer durchaus wohlhabenden Familie entstammte. Warum macht Glazer aus Rudolf Höß’ Schwiegermutter eine ehemalige Putzfrau in einem jüdischen Haushalt? Vielleicht deshalb, weil diese Putzfrau, je länger sie vor Ort ist, von den Geschehnissen im Konzentrationslager so aufgewühlt wird, dass sie das Haus eines Tages heimlich und grußlos verlässt. Glazer geht in seinem Film auf ein einziges jüdisches Opfer ein, das er als reiche Frau beschreibt, deren ehemals Untergebene zwar eine deutsche Mitmacherin ist, aber Herz genug hat, um zumindest vom Ort der Vernichtung zu fliehen. Eine reiche Jüdin und eine ausgebeutete deutsche Arbeitskraft als Stereotype für die Opfer und Täter heranzuziehen, bedient nicht nur antisemitische Vorurteile. Mitmenschliche Potenziale in jemandem zu erkennen, weil er unterprivilegiert in einem prekären Arbeitsverhältnis tätig war, nimmt die trostlosen Rettungsversuche der deutschen Arbeiterklasse durch KPD und SED auf, die darauf bestanden, dass den Juden nur ja kein „besonderer“ Opferstatus zuerkannt werden dürfe. Ideologischer und primitiver als in dieser Schlüsselszene von The Zone of Interest kann man den Unterschied zwischen „arm und reich“ kaum universalisieren.

Und was hat das alles mit Hannah Arendt zu tun?

The Zone of Interest wird im deutschsprachigen Feuilleton gerne unter Verweis auf Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ gelobt. Arendt hatte Eichmann und mit ihm viele andere sogenannte Schreibtischtäter als willige Befehlsempfänger verniedlicht, die in ihrer Durchschnittlichkeit zum Bösen gar nicht befähigt gewesen wären, – als bedürfte es dazu teuflischer Persönlichkeitsmerkmale. Eichmann erscheint bei ihr als bloßer Funktionär, dessen Interesse allein der Organisation des Holocausts gegolten habe, dessen Zweck ihm egal gewesen sei. Dabei war Adolf Eichmann ein so fanatischer Antisemit, dass er noch dann, als es gegolten hätte, unauffällig zu bleiben, seinen Kindern einen derart krassen Judenhass eintrichterte, dass er auch wegen des von ihnen unter Freunden und Mitschülern verbreiteten „Wissens über die Juden“ und der Notwendigkeit ihrer Vernichtung den Verdacht aufmerksamer Mütter und Väter in der deutschen Kolonie von Buenos Aires erregte, unter denen auch Juden waren, und schließlich aufflog. Was bei Arendt schon deutlich angelegt ist, treiben Glazer und mit ihm das deutsche Feuilleton in Sachen Höß auf die Spitze. Kann es das Böse, das im System Auschwitz mit seinen Funktionären und darüber hinaus in einer mindestens willig mitgehenden, jedenfalls vollkommen abgestumpften deutschen Bevölkerung vielfach verortet wird, überhaupt geben? Kann man eine Untat, die ohne die Außerkraftsetzung jeder Tötungshemmung, aber auch der Verdrängung des Offensichtlichen unmöglich ist, die sich unter anderem darin manifestierte, dass man achselzuckend zur Kenntnis nahm, dass Kleinkinder, Behinderte und Greise angeblich zum Arbeitseinsatz in den Osten verschickt wurden, anders nennen als eine Manifestation des Bösen? Glazer, der Rudolf Höß, der sprichwörtlich mit der Hand am Gashahn agierte, als liebenswerten Familienmenschen beschreibt, der eben nur seine Pflicht tat, verkennt absichtsvoll, dass er und seine Frau Überzeugungstäter waren. Höß war übrigens auch ein äußerst brutaler Killer. 1923 hatte er, gemeinsam mit zwei Kameraden, Walter Kadow, der als Verräter und Dieb aus der Arbeitsgemeinschaft Roßbach, einem früheren Freikorps, ausgeschlossen worden war, in einer Gaststätte in Parchim betrunken gemacht und in der Nacht in ein Waldstück verschleppt, wo sie ihn zunächst misshandelten und schließlich dem am Boden Liegenden die Kehle durchschnitten, bevor sie ihm in den Kopf schossen. (Wikipedia, Rudolf Höß) Höß war seit 1923 NSDAP-Mitglied und Martin Bormann eng verbunden. 1928 schlossen er und seine Frau sich der nationalsozialistischen, ökologischen und selbstverständlich antisemitischen Bewegung der Artamanen an, bei denen wohl seine und seiner Frau Vorliebe für deutsches Siedlerwesen im „Osten“ geweckt wurde.

Einer, der seit spätestens 1922 bekennender Antisemit war, ist keineswegs nur aus Karrieregründen Judenvernichter geworden. Dass Höß möglicherweise selber keine Juden misshandelt oder verhöhnt hat, könnte stimmen, aber was das mit seinem Willen zur Vernichtung der europäischen Juden zu tun hat, ist unbegreiflich. Keine zart besaiteten Deutschen oder Schreibtischtäter von nebenan wurden von Himmler in eine Villa neben dem Lager einquartiert, sondern hartgesottene Nazis der ersten Stunde, fanatische Judenhasser und Sadisten. Die polnischen Bewohner der Gegend, in der das Lager gebaut wurde, wurden von den Nazis zum Verlassen ihrer Häuser und Dörfer gezwungen, weil keine am Genozid unbeteiligten Menschen dort leben sollten. Man wollte Zeugen des Grauens vermeiden. Auch Glazer blickt nicht über die Lagermauer, sondern macht aus ihr eine der vielen Mauern der aktuellen Zeitgeschichte, hinter denen Menschen eingesperrt werden.

„Zwangsläufig“ fühlte man sich an Gaza erinnert

Das Leid, die Ermordung von Millionen Menschen wird in The Zone of Interest auf eine Geräuschinstallation reduziert, die als Kunstgriff genauso gefeiert wird wie der Einsatz von Überwachungskameras, die aus der Höß-Villa eine Art „Big Brother“-Haus machen, in dem sich das Publikum genauso ertappt fühlen soll wie die Darsteller im Film. Die Geräuschkulisse fungiert als Ersatz für das Geschehene, und klingt genauso monoton und bedrohlich wie in hunderten Filmen, wenn es gilt, Angst und Schrecken „erfahrbar“ zu machen.

Die kanadische Politaktivistin und Globalisierungskritikerin Naomi Klein glaubt, dass man sich angesichts der emotionalen Wucht der Bilder einer aktualisierten Lesart des historischen Stoffes nicht zu entziehen vermag. „Jeder, den ich kenne, der den Film gesehen hat“, schrieb sie im Guardian, „fühlte sich zwangsläufig an Gaza erinnert.“ (Berliner Zeitung, 18.3.2024) Es gibt im Film keine erklärte Eins-zu-Eins-Gleichsetzung, aber die fast völlige Unterschlagung der Identität der Opfer, nämlich Jude zu sein bzw. nach den Rassebestimmungen der Mörder Jude sein zu müssen, ist der Trick, um diese Austauschbarkeit zu erzeugen. Wenn von der Vernichtung der Juden erzählt wird, diese aber gar nicht vorkommen dürfen, ob im Bild oder im Gespräch der Täter, bleibt unvermeidlich das Gerücht über die Juden zurück. Das ist der zweite Trick, der es möglich macht, dass sich Millionen von Kinogängern bei The Zone of Interest „zwangsläufig“ an Gaza „erinnern“. Glazer, der aus dem gleichen postkolonialen Milieu wie Klein kommt, wusste sehr genau, worauf Leute anspringen, die sich an alles erinnern, nur nicht an den Holocaust, er wusste, dass allein die unkommentierte Darstellung der Lagermauer von Auschwitz ausreicht, um zu derselben Erkenntnis wie ein Kardinal im Jahr 2009 zu gelangen: „Schauen wir uns die Bedingungen im Gaza-Streifen an: Das ähnelt immer mehr einem großen Konzentrationslager“.

The Zone of Interest soll eine einzigartige und provokative Perspektive auf die Ereignisse in den KZs bieten und das Publikum wird herausgefordert, danach über Gut und Böse nachzudenken, wobei die Grenzen verschwimmen können. Wohin schwimmen wir nun? Die Schlüsselszene dieses Films, der kein Film über die Shoa sein will, ist jene, in der Hedwig Höß, die wie eine Karikatur der deutschen Frau anno 1940 gezeichnet ist, nämlich blond, gesund, gebärfreudig und fleißig, ihrer Mutter den liebevoll gepflegten Garten im neuen Wohnort zeigt und sinngemäß sagt: „Vor drei Jahren war hier gar nichts, als wir herkamen, und ich habe das alles so wunderbar bepflanzt“.

Diese Textpassage weist überdeutlich auf Israel und die jüdischen Einwanderer hin, die seit dem beginnenden 20. Jahrhundert, mehr noch nach dem 2. Weltkrieg die Wüste urbar gemacht haben und sich dabei an den Worten des Propheten Jesaja orientierten: „Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen. [...] Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.“ (Jesaja 35, 3–10, zit. n. Lutherübersetzung 2017). Gegen diese pragmatische wie biblische Verheißung für die Überlebenden richtet sich seit den 1960er-Jahren der Hohn und der Hass von antizionistischen Linken. Die Tatsache, dass Jonathan Glazer selbst Jude ist, verleiht solcher „Kritik“ am uralten jüdischen Traum von der Rückkehr in das Land der Verheißung, in dem sie so frei sein würden, als Jude ohne Verfolgung zu leben, zusätzliche Relevanz und Glaubwürdigkeit. Schließlich kann es nie schaden, das eigene Ressentiment mit Hinweisen wie, „ich kenne da einen Juden, der auch findet, dass.…“ gegen möglichen Einspruch abzusichern.

Die Langweiligkeit des Films, der dem Erzählkino verpflichtet nichts zu erzählen hat, soll uns vom langweiligen Feierabend der Mörder und ihrer Mittäter berichten, der irgendwie das Grauen noch potenziert. Die Bildsprache und die mit technischem Aufwand erzeugte Farbgebung, die an verblasste, kolorierte Schwarz-Weiß- Bilder aus Familienalben erinnert, erweist sich als eitler, aufwendiger und unsinniger Kunstgriff, der wie eine Hommage an die alte Zeit wirkt. Die Farbgebung des Bildmaterials von The Zone of Interest lässt an die Symbolik des roten Kleides denken, das in Steven Spielbergs Schindlers Liste zu einem starken visuellen Synonym für Ungerechtigkeit, Grausamkeit und für das Leben und die Würde jedes einzelnen Menschen steht. Eine solche Symbolik erreicht Glazer in keinem Moment seines Films. Die ausgebeuteten Opfer, die in der Höß-Villa arbeiten, die namenlosen nichtjüdischen Bediensteten, die von den Big-Brother-Kameras so aufgenommen wurden, dass ihre Identitäten nicht erkennbar sind, sollen wohl das Personal abgeben, das zu jeder, auf Ausbeutung der Untergebenen basierenden kapitalistischen Gesellschaft passt. Selbst die nachts herumstreifende Rebellin, die mit einer Wärmebildkamera aufgenommen wird, während sie Äpfel und Brotreste für die KZ-Häftlinge in den Büschen des Lagers versteckt, bleibt gesichts- und namenlos.

Der Holocaust schrumpft zur Kulisse

Mit wenigen Dialogen und ohne Handlung möchte der Film ins Schwarze treffen und trifft in einen konvertierbaren Abgrund an Trivialität, wie auch die Sequenz beweist, in der Höß seine sexuelle Lust auslebt. Man weiß, dass Rudolf Höß eine politische Gefangene, die im Lager inhaftiert war, mehrfach vergewaltigt hat; die Frau wurde schwanger und musste mit harten Strafen und einer Abtreibung dafür büßen. Diese Geschichte inszeniert Glazer, indem er eine Szene baut, die wie ein völlig „normaler“ Besuch einer Prostituierten bei einem völlig „normalen“ deutschen Mann wirken soll. Eine junge Frau nimmt in Höß’ Arbeitszimmer Platz, öffnet ihren über einen Meter langen dicken Zopf aus rotbraunem Haar und entledigt sich ihrer Schuhe, um Höß gefügig zu sein. Dass es eine sexuelle Begegnung gab, erfahren wir nach dem nächsten Schnitt, wenn wir den Sturmbannführer bei der ausgiebigen Reinigung seines Genitalbereiches von hinten zu sehen bekommen.

Jonathan Glazer erzählt über einen im Schöner-Wohnen-Ambiente residierenden Massenmörder, der Frauen, die sich in seiner Gefangenschaft befinden, sexuell ausbeutet und seine eigenen Kinder liebt. So weit so schlecht. All das führt weg von der Realität Auschwitz, das eben kein Gefangenenlager in einem autoritären Staat war, in dem die Kapos sich auch sexuell bedienten. Sexuelle Beziehungen mit Jüdinnen oder auch Juden waren für die deutsche Lagerbesatzung tabu. Die einfach gestrickte Familie Höß steht in Glazers Film in keinem Kontrast zum Vernichtungsvorgang, sondern existiert einfach daneben. Die richtige Einsicht, dass das Böse nicht einfach mit der Abbildung extre­mer Grausamkeit gezeigt werden kann, hat im Fall von The Zone of Interest dazu geführt, dass stattdessen der banale Alltag von Unmenschen dargestellt wurde, die so austauschbar erscheinen, wie es der zur Kulisse geschrumpfte Holocaust eben nicht ist.

Man fragt sich, für welches Publikum dieser Film gedreht wurde und was seine Botschaft ist. Ein Film über den Holocaust ist The Zone of Interest nicht, man muss die Geschichte bereits kennen, um den Film zu verstehen. Ein Film über die Täter und deren Perspektive ist er aber auch nicht, dafür ist die fade Charakterstudie einer einzigen Familie zu flach. Liefert er überhaupt eine Sicht auf die Shoa, die es so noch nie in filmischer Form gegeben hat?

The Zone of Interest ist das Werk eines ehrgeizigen Filmemachers, der durch seine angeblich außergewöhnliche Erzählweise der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges auffallen will, sich zu diesem Zweck den Genozid an den Juden aneignet und das Wissen zu diesem Thema beim Publikum voraussetzt. Aber selbst dafür ist die vielgelobte Tonspur des Grauens zu leise und der rauchende Schornstein im Hintergrund zu abgedroschen. Es ist offensichtlich, dass das Werk ins Heute übersetzt werden soll und dass Glazer die von Hitler geplante und fast vollständig ausgeführte Ausrottung der Juden als Synonym für den kapitalistischen Westen verwendet, der als generalisiert böser Täter in blühenden Kleingärten vor den Mauern sitzt, hinter denen der globale Süden ausgebeutet wird und verhungert. Israel, vor und nach dem 7. Oktober, steht dabei natürlich an vorderster Front. Glazer verwendet den Holocaust als bloßes Requisit, verfälscht die wahre Tragödie und zündelt, wo es gerade heute für jüdisches Leben am gefährlichsten ist. Glazers „Heute“ sind die Europäer und Amerikaner, die im Wohlstand leben und das Schicksal ihrer Nachbarn ausblenden. Die „Entjudung“, die Glazer in seinem Film vornimmt, macht sogenannten Antizionisten wie den leidenschaftlichen Antisemiten aus dem arabischen Raum bis nach Amerika Freude.

Glazer wird für seine Täter-Opfer-Umkehr gefeiert

Diese an den Haaren herbeigezogene Nachbarschaft weitet der Filmemacher bis ins Unendliche aus. Doch wenn es um Juden und den Genozid an ihnen geht, endet die Unendlichkeit der Vergleichbarkeiten in Israel, weil die Welt dort seit jeher und seit dem 7. Oktober ganz besonders die Chance wittert, die Geschichte auf den Kopf stellen zu können. Man möchte die Juden in die Gärten vor den Mauern und Zäunen versetzen, hinter denen sich die von ihnen selbst errichtete neue Zone of Interest befindet: Gaza. Das ist Glazers perfide Aufarbeitungsidee. Er will nicht über die Vergangenheit erzählen und zeigen, was in Auschwitz passiert ist, sondern im Heute andocken, was auch ohne seine Oscar-Rede deutlich wird. Jonathan Glazers Worte bei der Entgegennahme des größten Preises, den die Filmindustrie vergibt, liefern dazu den Beweis. „Unser Film zeigt, wohin die Entmenschlichung in ihrer schlimmsten Form führt. Sie hat unsere gesamte Vergangenheit und Gegenwart geprägt. Heute stehen wir hier als Menschen, die ihr Jüdischsein und den Holocaust ablehnen, der von einer Besatzung gekapert wurde, die zu Konflikten für so viele unschuldige Menschen geführt hat. Ob die Opfer des 7. Oktobers in Israel oder des andauernden Angriffs auf Gaza. Alle sind Opfer dieser Entmenschlichung …, wie können wir Widerstand leisten?“

Das ist es wohl, was postkolonial gebildete Intellektuelle an dem Film so bewegt und das ist es, was der Film The Zone of Interest für die antizionistische Bewegung so routiniert untermauert. Genau dort wollte Jonathan Glazer hin und ganz sicher nicht ohne Absicht, wie es die in Pakistan erscheinende Friday Times begeistert vermutet, die am 27.2.2023 unter dem Titel „Watching Jonathan Glazer’s The Zone of Interest As Israel Massacres People In Gaza“ schreibt:

„Die Aktualität des Films zeigt sich in einem weiteren Aspekt: Auch wenn diese Anspielung unbeabsichtigt ist, fällt die Situation des friedlichen, unbeschwerten Lebens der zionistischen Siedler und der leidenden und sterbenden Palästinenser auf der anderen Seite der Mauer sofort ins Auge. Das von liberalen Medien und Kommentatoren in aller Welt verbreitete Narrativ zur Operation Al-Aqsa-Flut drehte sich um den Angriff der Hamas auf das Musikfestival am 7. Oktober. Das Festival, auf dem sich junge Menschen unbeschwert vergnügten, fand nur zwei Kilometer von den Mauern des Gazastreifens entfernt statt. Auf der einen Seite der unbekümmerte Spaß der Siedler, auf der anderen Seite die Tragödie der Palästinenser.“ Auch die sozialen Medien gehen über vor Freude über Glazers Holocaustrelativierung. Ein syrischer Facebook-User stellt erfreut fest, was die Botschaft ist. „Nicht zu sagen: ‚Seht, was sie damals getan haben‘, sondern ‚Seht, was wir heute tun‘, sagte Glazer und räumte schnell mit der Vorstellung auf, dass der Vergleich heutiger Schrecken mit den Verbrechen der Nazis von Natur aus verharmlosend oder relativierend sei. Er ließ keinen Zweifel daran, dass es seine ausdrückliche Absicht war, Kontinuitäten zwischen der monströsen Vergangenheit und unserer monströsen Gegenwart aufzuzeigen.“ Ganz abgesehen von den zahlreichen Dankesbekundungen an Glazer, die auf Social Media oft mit „Free Palestine“ schließen, wird man auf Facebook, Instagram und TikTok schnell fündig, wo es unzählige israelfeindliche Statements zu Glazers Film gibt. Der Unterschied zwischen dem Lob der Cineasten und den üblichen antisemitischen Hasskommentaren, die man seit dem 7. Oktober unter nahezu allen Social-Media-Beiträgen von jüdischen Institutionen oder auch jüdischen Privatpersonen findet, besteht allein darin, dass die einschlägige Community sich bei Glazer zunächst für The Zone of Interest bedankt und dann erst antisemitische Kommentare verfasst.

Glazer hat in einem Film über Auschwitz die Juden als Zeugen gegen sich selbst eingesetzt, eine natürlich diskursive Täter-Opfer-Umkehr angezettelt und damit zur Aufstachelung des antisemitischen Mobs z.B. an den Universitäten in den USA beigetragen. Der oscargekrönte Film setzt die Shoa mit Israel als Täterland gegen Gaza gleich, und das so gefinkelt, dass man Schülern das Thema Kolonialismus mit den Juden als Täter anhand deren eigener europäischer Geschichte erklären kann, woran gleichzeitig jeder alte, rechte, verstaubte Nazi und jeder junge, woke, linke Antisemit seine helle Freude hat.

Glazer stellt sich mit seinem Rudolf Höß auf eine Stufe mit Arendt und ihrem Adolf Eichmann. Er macht damit das Böse so klein und trivial, dass noch der mieseste Geschichtsrelativierer mitgehen kann. Wozu der Mensch fähig ist, weiß man schon lange. Das muss uns Jonathan Glazer nicht erklären, schon gar nicht auf dem Rücken der Juden und ihres Schicksals.

Lisa Wegenstein / Justus Wertmüller (Bahamas 94 / 2024)

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