Titelbild des Hefts Nummer 94
#zusammenland: Eine Islamisierung findet nicht statt
Heft 94 / Frühjahr 2024
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Sehnsucht nach der Bonner Republik

Wie faschistisch sind Sellner, Krah und Co.?

Anfang April 2024 erhob die Staatsanwaltschaft Halle bereits zum zweiten Mal Anklage gegen den auf Wikipedia als „einflussreichster Politiker der AfD“ firmierenden Björn Höcke. Wiederholt soll er öffentlich bewusst die SA-Parole „Alles für Deutschland“ verwendet haben, was als verboten gilt. Jenseits der Frage nach der Strafbarkeit ist es symptomatisch für den Umgang mit der AfD, dass nicht nur bei denjenigen, die von Beruf Zivilgesellschafter bzw. Staatsbeamte gegen rechts sind, sondern auch in den sogenannten Qualitätsmedien niemand überhaupt nur die Frage aufwirft, was einen Höcke dazu bewogen haben könnte, zu Zwecken der Provokation ausgerechnet die Parole einer seinerzeit militärisch operierenden Terrorbande zu verwenden. Denn man kann selbst dem offiziell als aufgelöst geltenden „Flügel“, der neuen Schnellroda-Rechten oder den Identitären um Martin Sellner nicht unterstellen, sie würden am Aufbau einer auch nur annähernd vergleichbaren militärisch organisierten Schlägertruppe arbeiten oder einem ähnlichen Militärfetisch oder Militarismus anhängen beziehungsweise das Wort reden, wie es die Röhmtruppe bis zur „Nacht der langen Messer“ 1934 war und tat. Diese Tatsache wird auch nicht durch die zum „Reuß-Putsch“ aufgeblasenen stümperhaften Vorbereitungen zum „Staatsstreich“ einer Handvoll durchgeknallter Reichsbürger widerlegt. Im Gegenteil erwies sich, wie isoliert die Reichsbürger im neurechten Milieu sind. Weder Björn Höcke noch Götz Kubitschek noch Martin Sellner verstehen sich als Reichsbürger noch teilen sie deren Überzeugungen.

Nicht erst seitdem einige Journalisten, die von sich behaupten, ein Correctiv in der öffentlichen Wahrnehmung zu sein, eine zweite Wannseekonferenz enttarnt haben wollten und sich dabei von der ehrenamtlich tätigen und immerhin weitgehend akkurat arbeitenden Rechercheantifa der 1980er und 1990er Jahre darin unterscheiden, dass sie Propaganda statt Fakten liefern, wird im Dauerkampf gegen rechts die Wiederkehr des Faschismus beschworen. Über den Faschismus sollte man eigentlich gelernt haben, wie zentral gerade das militaris­tische Moment und der Sturmtruppen­terror für jede seiner Formen ist. Das Fehlen dieses für den Faschismus konstitutiven Elements innerhalb der neuen Rechten führt zu keiner Reflexion der eigenen Haltung in der bürgerlichen Mitte, die unverdrossen neue Nazis erkennt – zum Beispiel in den Akteuren ungewohnt rabiater Bauernproteste, die nicht nur als rechts diffamiert wurden, sondern drauf und dran gewesen seien, eine Art neue SA zu etablieren, oder in den alles andere als organisierten oder koordinierten hässlichen Übergriffen auf Kommunalpolitiker. Warum man sich der Einsicht eines Handbuchs nicht anschließen will, das als „Überblick und Einführung“ in Faschismustheorien im Rahmen der nicht nur unter Linken beliebten Buchreihe theorie.org veröffentlicht wurde, welches die Gleichsetzung der neuen Rechten mit dem Natio­nalsozialismus verwirft, erscheint nur auf den ersten Blick rätselhaft. Über „neuartige, häufig als ‚rechtspopulistisch‘ bezeichnete Rechtsaußenkräfte“ kann man dort erfahren, dass „außer Frage [steht], dass diesen Parteien hinsichtlich ihrer politischen Praxis- und Organisationsformen wichtige Merkmale der historischen Faschismen, wie zum Beispiel milizartige männliche Kampfbünde, fehlen.“ (1)

Wie also ist es zu erklären, dass bei den unheimlichen Massenaufmärschen gegen rechts Anfang des Jahres die Entsolidarisierung mit Israel, die in der skrupellosen Entwendung und Aneignung des 10/7-Slogans „Nie wieder ist jetzt“ kulminierte, Hunderttausende erschienen? Es müssen vorwiegend Leute vom Schlage der Sozialdemokratin Katrin von Eyß aus Lahnstein gewesen sein, über die man in der FAZ erfährt: „Als Kind der 80er-Jahre habe sie lange nicht gedacht, politisch sein zu müssen. Aber jetzt berichtet sie von einem mulmigen Gefühl. […] Wahnsinn sei es, ‚dass heute wieder Leute ganz offen einen Nazistaat aufbauen wollen.’“ Oder vom Schlage eines Christian Rosenberger, der „zum ersten Mal in seinem Leben auf einer Demonstration“ war: „Er ist 43 Jahre alt, gebürtiger Frankfurter und mit seinen beiden Söhnen gekommen, die fünf und zehn Jahre alt sind. Sein älterer Sohn hält ein Pappschild hoch, auf dem ‚Frankfurt ist bunt‘ geschrieben steht. ‚Ich bin Teil einer Generation, die sich nicht so viel um Sachen kümmert und ohne Probleme aufgewachsen ist‘, sagt Rosenberger.“ Nach den „Correctiv-Recherchen“ aber habe er „keine andere Wahl gehabt, […] er musste etwas tun. Also habe er sich in den vergangenen Wochen mit seinen beiden Söhnen hingesetzt und ihnen vom Nationalsozialismus erzählt. Sie sollten verstehen, dass die Situation aktuell wieder ähnlich gefährlich sei wie vor Hitlers Machtübernahme.“ (FAZ, 28.3. u. 22.1.2024)

Fehlendes Interesse

Aus dem „mulmigen Gefühl“, das die Eyßes und Rosenbergers beschlichen hat, spricht vor allem die Sorge, dass es in den nächsten Jahren wohl nicht mehr wie gewohnt „ohne Probleme“ weitergehen wird. Statt sich jedoch der gesellschaftlichen Realität bewusst zu werden und sich ihr zu stellen, wird sie klassisch projektiv verdrängt, Ursache und Wirkung vertauscht und geschichtsrelativierend ein Popanz errichtet, an dem sich jene Ersatzhandlung vornehmen lässt, auf die Symptombekämpfung immer hinausläuft. Entgegen kommt den neuen Aktivbürgern eine längst Staatspropaganda gewordene Feindbestimmung gegen rechts, die von der gleichen auf Carl Schmitt zurückgehenden Freund-Feind-Dichotomie getrieben ist, wie man sie den Rechten stets vorwirft. Zwar wird das tapfer geleugnet und darauf verwiesen, man wolle der drohenden gesellschaftlichen Spaltung entgegenwirken; in Wirklichkeit folgt man der Handlungsanweisung des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, der die Bürger zu Gesinnungsspitzeleien ermuntert: „Schauen wir genau hin und enttarnen sie als das was sie sind – Feinde der Demokratie“. (FAZ, 14.2.2024)

Die Bestimmung des rechten Feindes geht einher mit einer immer inhaltsleerer werdenden Fetischisierung des Demokratiebegriffes, die Adorno in den späten 1930er Jahren in den USA als falsche Reaktion auf faschistische Propaganda ausgemacht hatte: „Hier haben wir es mit einer folgenreichen Dynamik zu tun. Es lässt sich nicht bestreiten, dass die formale Demokratie unter dem jetzigen Wirtschaftssystem der Masse der Bevölkerung die Befriedigung der elementarsten Wünsche und Bedürfnisse auf Dauer nicht zu garantieren vermag, während doch zur selben Zeit die demokratische Staatsform so dargestellt wird, als komme sie […] einer idealen Gesellschaft so nahe wie überhaupt möglich. Das durch einen solchen Widerspruch erzeugte Ressentiment wendet sich bei denen, die seine ökonomischen Ursachen nicht erkennen können, gegen die demokratische Staatsform selbst.“ (2) Dass die Fetischisierung von Demokratie nicht nur bei Leuten mit Ressentiment zu ihrer Unterminierung führt, sondern längst auch bei jenen, die von sich behaupten, die Demokratie verteidigen zu wollen, fiel sogar der FAZ auf. Der für „Staat und Recht“ zuständige Redakteur Reinhard Müller, hat am 16. Januar 2024 über die Leute mit dem mulmigen Gefühl, zu denen auch die Innenministerin gehört, treffend geschrieben: „Wer die Forderung nach Abschiebungen aller sich hier illegal aufhaltenden Menschen mit der Wannseekonferenz in Verbindung bringt, […] dem fehlt […] jeder historische Verstand, und er hat offenbar auch kein Interesse am Erhalt des demokratischen Rechts- und Sozialstaats.“

Die da genau hingeschaut haben wollen, bevor sie den public enemy an den Pranger stellten, sind zuverlässig der deutschen Erinnerungskultur verpflichtet, die nicht dadurch besser wird, dass sich Björn Höcke nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ sehnt und damit in etwa meint, was Franz Josef Strauß einst in dem Satz zusammengefasst haben soll: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen“. (3)

Zu kritisieren ist an der Erinnerungskultur, dass in ihr alles dem Zweck untergeordnet wird, in Höcke, Kubitschek oder Sellner die Wiedergänger Adolf Hitlers und in der AfD die neue NSDAP zu erblicken. Wer mit diesen unhaltbaren Gleichsetzungen eine wachsame antifaschistische Gesellschaft etablieren will, muss sich nicht nur nachsagen lassen, dass er die zunehmende Islamisierung begünstigt; er untergräbt mit seiner paranoiden Fixierung auf den rechten Feind auch die Voraussetzungen für die vernünftige Einrichtung der öffentlichen Belange, indem er den angstfreien Argumententausch suspendiert und durch Triggerwarnungen ersetzt.

Die Erinnerungskultur treibt selbst unter den Jüngsten gerade dort besonders irre Blüten, wo es wie im Berliner Stadtbezirk Steglitz-Zehlendorf noch relativ wohlsituiert und bildungsnah zugeht, weil die Väter, statt ihrem „mulmigen Gefühl“ auf den Grund zu gehen, ihre Söhne mit schrillen Faschismuswarnungen in Panik versetzen. Als Ende Februar dieses Jahres knapp 2.000 ortsansässige Schüler gegen die AfD unter dem Motto „Schule gegen Rechts – 1933 soll im Geschichtsbuch bleiben“ auf die Straße gingen, erbrachten die jugendlichen Organisatoren der „AG Fichte ohne Rassismus“ der Fichtenberg-Oberschule umgehend den Nachweis, was erinnerungspolitisch schiefläuft. Wenn die Lektüre des Geschichtsbuches zum Thema 1933 dazu führt, dass im Demonstrationsaufruf hineingeschrieben wird, das sogenannte Geheimtreffen am Lehnitzsee erinnere „stark an die Wannseekonferenz“, dann muss devotes Klassenstreberwissen folgen: „Wir Schüler:innen müssen für uns und unsere Zukunft einstehen, dafür ist Schule gemacht. Der erste Paragraph im Schulgesetz lautet: ‚Ziel muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten.’“ (fichtenblatt.de, Hervorhebung S.P.)

Die Fähigkeit zum Urteil darüber, was nationalsozialistisch ist und was nicht, nimmt mit der endgültigen Umwidmung der Erinnerungskultur zur einzig wahren Kampfform gegen rechts stetig ab. Nicht fähig zu sein, den Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu erkennen, ist das Resultat eines geschichtspolitischen Curriculums, auf dessen Grundlage es schon länger vorrangig darum geht, die Unterschiede zwischen NS und Faschismus, rechts, rechtsradikal und rechtsextrem, konservativ und konservativ-revolutionär, national, nationalistisch und völkisch zu verwischen und zu einem einzigen braunen Brei zu verrühren.

Als ginge es um die Austreibung kritischen Denkens nach Auschwitz wird gerade das verhindert, was Leo Löwenthal zum Ausgangspunkt seiner Studien zur faschistischen Agitation über Falsche Propheten machte: „Die erste Aufgabe, die sich bei der Untersuchung jedweder sozialen Bewegung stellt, ist es, die spezifische, gesellschaftlich bedingte Unzufriedenheit aufzudecken, an welche das politische Programm appelliert. […] Eine Untersuchung des Agitationsphänomens sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, diesen Zustand der Unzufriedenheit, auf den der Agitator sich bezieht, selbst zu explizieren“. (4)

Ausgemachter Blödsinn

Am Beispiel des AfD-Agitators Maximilian Krah könnte man mit Leo Löwenthal danach fragen, an welche gesellschaftlich bedingte Unzufriedenheit sein politisches Programm appelliert, das unter dem Titel Politik von rechts. Ein Manifest im Schnellrodaer Verlag von Götz Kubi­tschek erschienen ist (5) und mit einem Vorwort von Alexander Gauland geadelt wurde. Gauland attestierte dem Buch, es sei „nichts weniger als eine Raison d’être der AfD“ und ein „kluges und vernünftiges Programm zu Bewahrung der Humanität in überschaubaren Einheiten und Traditionszusammenhängen.“

Auf den ersten Blick könnte man Krah schon deshalb für schnell erledigt halten, weil er in der Begründung, warum man sich den Begriff Konservatismus „sparen“ und sich stattdessen als rechts bekennen solle – das Einzige übrigens, was Gauland an Krahs „Manifest“ für falsch hält und dagegen den Begriff des „sozialen Konservatismus“ setzt, der das Verbindende mit Sahra Wagenknecht sein soll (ebd.) – allen Ernstes von einer „natürlichen Ordnung“ als „zentralem Begriff“ spricht. Man solle „Natur und Tradition normativ“ verstehen: „Was wir ererbt und übernommen haben, wo wir hineingeboren sind, was uns biologisch ausmacht, verpflichtet uns“. (S. 14 f.) Das erinnert an den Naturbegriff der Grünen, die vom Leben im Einklang mit der Natur reden, als wäre Natur nicht Freund und Feind zugleich, und in jeder Berufung auf die biblische Idee, sich die Erde untertan zu machen, bereits die Planung eines Menschheitsverbrechens erkennen. Krah leitet von der Natur zur Tradition über, beschwört das naturverfallene Schicksal des Einzelnen und ruft im Jargon des deutschen Existenzialismus dazu auf, zu akzeptieren „was wir sind“, sich der Frage nach seinem „eigentlichen Ich“ zu stellen, um im „Einklang mit seinem Wesen“ stehen zu können, weiß man doch, dass alle „äußerlichen Dinge ein inneres Sein haben“. (S. 33 u. S. 195)

Solches Denken hat Adorno in Verteidigung des Traditionsbegriffs gegen seine falschen Liebhaber in den Studien zum autoritären Charakter bündig so charakterisiert: „Alle faschistischen Bewegungen bedienen sich offiziell traditioneller Ideen und Werte, geben ihnen jedoch in Wirklichkeit eine völlig andere, antihumane Bedeutung.“ (6) Nimmt man noch hinzu, dass Krah unter rechts „keine Mentalität, sondern eine Weltanschauung“ versteht (S. 13), dann sind alle Ingredienzen des Dreiklangs aus „Staat, Bewegung, Volk“, die Carl Schmitt in seiner Politischen Theologie als „politische Einheit“ verstand, beisammen, die die Sehnsucht nach dem volksgemeinschaftlichen Bewegungsstaat ausmachen. (7) Doch schon seine nur wenige Seiten weiter vorgenommene Abgrenzung von den Verfechtern eines libertären Nachtwächterstaates lässt aufhorchen. „Rechte Politik“ bejahe zwar den „Staat als kollektive Ordnungsmacht“, wisse „aber um seine Gefährlichkeit“. Krah plädiert mit seiner Staatsskepis keineswegs für den NS-Staat, der sich zum totalitären „Unstaat“ (Franz Neumann) entwickelte, sondern warnt allen Ernstes seine Kameraden vor einem Etatismus von rechts: „Es ist […] zu kurz gedacht, den Staat nur dann zu kritisieren, wenn er sich einer linken politischen Agenda verpflichtet hat […]. Vielmehr ist es notwendig, sich der innerinstitutionellen Mechanismen bewusst zu werden und zu erkennen, dass auch ein nichtlinker Staat immer bestrebt sein wird, seine Macht auszudehnen und in Lebensbereiche vorzudringen, die genuin privat sind: staatliche Fürsorge unterminiert die traditio­nelle Familie, staatliche Wirtschaftspolitik nützt üblicherweise den Falschen und ist ineffektiv, staatliche Kulturförderung fließt in politisch gewollte Projekte statt in kulturell wertvolle“. (S. 19 u. S. 17)

Solche Sätze reden weder einer NS-Familienpolitik das Wort, die darauf abzielte, die Privatheit der Familie durch Einbindung in zahlreiche volksgemeinschaftliche Massenorganisationen weitgehend aufzulösen, noch stehen sie für eine Sehnsucht nach Neuauflage der Deutschen Arbeitsfront, mittels derer der Antagonismus von Kapital und Arbeit aufgehoben werden sollte, oder für die nach einer zentral gesteuerten Kulturpolitik á la Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Vielmehr klingen Krahs Worte wie die eines Hayek-Fans respektive FDP-Wählers und zugleich nach katholischer Soziallehre und dem ihr inhärenten Subsidiaritätsprinzip. Die Privatheit gegen den potenziell immer übergriffigen Staat hochzuhalten, ist weder faschistisch noch nationalsozialistisch, sondern historisch betrachtet immer schon dessen Gegenteil. Krah jedoch deshalb gar einen Antifaschisten zu nennen, verbietet sich schon deswegen, weil sein Plädoyer für die traditionelle Familie nicht die bürgerliche Kleinfamilie meint, auf dem die Scheidung von privat und öffentlich aufruht(e). Statt­dessen hat er es selbst auf die Privatheit und damit auch die Restbestände bürgerlicher Autonomie abgesehen, wenn er in Reaktion auf das Problem des zunehmenden Zerfalls der bürgerlichen Kleinfamilie im Westen einen „generationenübergreifenden Familienbegriff“ hochhält (S. 133). Damit suggeriert er, dass die gesellschaftliche (Wieder-)Hinwendung zu Sippe und Stamm die zerrütteten Familienverhältnisse bzw. die schwindende Bereitschaft, eine Familie überhaupt zu gründen, beenden könnte. Krahs Bedauern, dass „das Modell der Großfamilie generell aus der Mode gekommen“ sei, mag ernst gemeint sein und gegen die Pflege umfangreicher Familienbande ist nichts einzuwenden, solange mit ihr weder Zwang und Unterdrückung einhergehen noch instrumentell andere Zwecke verfolgt werden. Doch genau das ist Krah vorzuwerfen. (S. 46) Dass er wirklich zu einer Gesellschaft der Blutsbande zurück möchte, kann man schon deshalb ausschließen, weil er sich damit bei den eigenen Anhängern kaum Freunde machen würde, deren Bedürfnis, ihm, der acht Kinder von drei Frauen hat, oder dem siebenfachen Familienvater Götz Kubitschek nachzueifern, sich in sehr engen Grenzen halten dürfte. Krahs Befürwortung der Großfamilie verweist eher darauf, dass es mit Islamkritik bei ihm nicht weit her sein kann. Vielmehr besteht die Tendenz zu einer Art Islamneid, die durch die Häme über das Versagen der christlichen Kirchen in Westeuropa noch verstärkt wird. Am Christentum fasziniert ihn nur seine orientalische Variante, in der unreflektierter Glaube, inbrünstig ausgeführte Rituale und schrankenlose Autoritätshörigkeit zusammenfallen, also die russische Orthodoxie. „Der Glaubensverlust im Westen ist eine Last, keine Tugend. Wir sehen in den orthodox geprägten Ländern, wie wertvoll eine intakte, traditionelle Kirche [...] ist“, schreibt Krah, für den das hiesige „Christentum [...] als Partner ausscheidet.“ (S. 28 f.) Eine mindestens heimliche Islambewunderung kommt insbesondere dann zum Ausdruck, wenn Krah auf seine Vorliebe für Sippe und Stamm zu sprechen kommt: „Da die migrantischen Milieus oft über intakte Familienstrukturen verfügen, sind sie gegenüber den Autochthonen, die rein auf die staatlichen Fürsorgeeinrichtungen vertraut haben, im Vorteil.“ Migrantische Großfamilien, die in aller Regel moslemisch sind, sind nicht nur überdurchschnittlich von Gewalt und Vernachlässigung der Kinder geprägt, sondern verlassen sich mit der größten Selbstverständlichkeit auch auf staatliche Transferleistungen. Das weiß auch Krah, der dieses Narrativ braucht, um eine andere migrantische Realität zu feiern. Er schielt neidisch auf das, was er als Agitator jederzeit angreift: Die Verschmelzung von Großfamilien mit einem auf Religion und Herkunftsländer bezogenen geschlossenen und gegenüber der Mehrheitsgesellschaft feindseligen Milieu, das die islamische Gegengesellschaft ausmacht. Wenn Krah in „Migranten Verbündete“ erkennen will, dann nur, um seine Vision von der naturhaften, widerspruchsfreien Gesellschaft durch die Einführung eines scheinbaren Paradoxes zu illustrieren. Er will eine, wenn auch deutsche Gegengesellschaft, die statt auf der Übereinkunft der Bürger, bestimmte Regeln des Zusammenlebens anzuerkennen, bei strikt gewahrter individueller Abschottung gegen kollektive Zumutungen auf Blutsbande und Gemeinschaft aufruhen soll. (S. 49 f.) Dieser Eindruck verfestigt sich noch dadurch, dass die von Krah hochgehaltene „Komplementarität der Geschlechter“ als „Schlüssel für eine gesunde Gesellschaft“ am stärksten nicht im rechten oder christlich-orthodoxen, sondern im moslemischen Lager propagiert wird. (S. 44) Anstatt in der moslemischen Sippe und dem ihr fast immer eignenden Tugendterror ein Problem zu sehen, feiert er die dort angeblich vorhandene „generationenübergreifende Familie“ und propagiert in seinem „Manifest“ eine Leitkultur, in deren Zentrum die Organisationsform Großfamilie steht. Dass es unter solchen Vorzeichen mit der auch von Krah stets erhobenen Forderung nach der Assimilation von insbesondere Korananhängern nicht weit her sein kann, liegt auf der Hand. Wer in Sippe und Stamm Formen von Selbstorganisation feiert, die „weitgehend“ frei für sich existieren könnten und darin gar die Voraussetzung für eine erstrebenswerte „Gegenwelt zum öffentlichen, durch staatliches Recht und Behörden geprägten Raum“ (S. 47) erkennt, hat den Freunden von Scharia und Ummah nichts entgegenzusetzen, weil er, kaum anders als Krahs vorgeblicher Erzfeind, den er den „westlich, postmodernen Linksliberalismus“ nennt (S. 26), deren völkischen Kultur- respektive Religionsbegriff teilt und somit von den Anhängern der einzig wahren Religion den Assimilationsdruck nimmt statt ihn, wie ständig behauptet, zu erhöhen. Als wäre Kultur eine Art lebenslänglicher Knast stellt Krah ganz ähnlich dem postmodernen Antirassismus – Stichwort „kulturelle Aneignung“ – nur folgerichtig fest: „Kultur kann nicht beliebig auf Menschen mit ganz anderer Herkunft übertragen werden.“ (S. 59)

Postkolonialist Krah?

Krah präsentiert sich in seinem „Manifest“ nicht als Anhänger einer totalitären Diktatur, für die Franz Neumann „fünf wesentliche Momente“ geltend gemacht hat, von denen sich nicht eines in „Politik von rechts“ für den Fall einer Regierungsübernahme angekündigt findet: „die Umwandlung eines Rechtsstaates in einen Polizeistaat“, „der Übergang von einer Aufteilung der Macht […] zur Machtkonzentration“, die Herrschaft einer „monopolistischen Staatspartei“, der „Übergang von pluralistischen zu totalitären Kontrollen über die Gesellschaft“ und „der Terror, die nicht berechenbare Anwendung psychischer Gewalt als permanente Drohung gegen jeden“ (8). Es bleibt erst recht die Frage, wie man auf den Begriff bringt, was Krah da zusammengeschrieben hat und von Elsässers Compact-Magazin „eine weltanschaulich fundierte Grundlagenschrift“ genannt wird. Auch wenn Krah es ähnlich wie Thilo Sarrazin nicht lassen konnte, den im Vergleich zu „ethnischen Deutschen“ angeblich erheblich niedrigeren IQ in Afghanistan, Subsahara-Afrika und anderswo zum Gegenstand einer „demografischen Debatte“ machen zu wollen, „weil die Qualifikation mit biologischen Eigenschaften, insbesondere der Intelligenz, verknüpft ist und diese vererbt werden“ (S. 173) – ein Blut-und Boden-Ideologe ist Krah ebenso wenig wie Militarist oder Verfechter eines Führerkultes. Was Krah in Sachen „charismatischer Gründerfigur“ zu Papier bringt, klingt dann auch nicht nach Reichsparteitag, sondern nach einem öden Seminar für Angestellte einer Kreissparkasse, in dem abgedroschene Leadership- und Teambuilding-Konzepte vermittelt werden: „Die schillernden Figuren tragen oft nicht lange. Es ist deshalb wichtiger, auf ein Team zu setzen, in dem der eine des anderen Last trägt. […] Einer muss immer der Vorsitzende sein, aber flankiert von loyalen Mitstreitern kann er Autorität herausbilden, die Bestand hat, weil sie auf Strukturen, Inhalten und Netzwerken basiert und nicht auf schauspielerischen Talenten.“ Nur folgerichtig ruft Krah dann auch statt nach altem Untertanengeist und blinder Gefolgschaft ganz antiautoritär gestimmt nach „möglichst breiter Beteiligung der Basismitglieder an inhaltlichen Positionierungen.“ (S. 214 u. S. 216)

Warum ein Basisdemokrat kein Faschist sein kann, muss man wohl nicht erklären. Als Anhänger der Carl Schmittschen Raumordnung ist Krah zugleich auch bekennender Ethnopluralist, der die Idee des Westens nicht als Unort, sondern als „Kultur der ethnischen Westler“ begreift, als „Ausdruck ihrer Besonderheit.“ Entsprechend sei „die entscheidende Frontlinie die zwischen Universalismus und Partikularismus“ und ohnehin „die Menschheit kein tauglicher Identifikationsrahmen.“ (S. 117, S. 126, S. 136) Seine Freude über die zunehmende Schwäche und Unattraktivität des Westens verbirgt Krah nicht, sieht er doch dadurch die rechte Chance gekommen. Schwäche und Unattraktivität macht er allerdings nicht am globalen Rückzug des Westens von seiner Idee der Gleichheit und individueller Autonomie fest, er beklagt vielmehr deren Entgrenzung, die Abtrennung „von seinen historischen, geografischen und ethnischen Wurzeln.“ (S. 112) Solcher „Globalismus“ sei ein „Kulturkampf“, der so funktioniere „als sei Leo Trotzki aus dem Grab gestiegen und habe in Washington D.C. Sitz genommen“, weshalb auch „die Regenbogenfahne […] das Sternenbanner längst abgelöst“ hätte. (S. 113 u. S. 115)

Sieht man von seiner Distanz gegenüber LGBTQ ab, dann unterscheidet sich Krahs angeblich dezidiert rechte Globalisierungskritik nur darin von der postkolonialen, dass sie im Gegensatz zu ihr nicht mit den Rassekategorien „weiß“, „colored“ oder „schwarz“ operiert. Krahs Argumentation belegt nur, dass die Globalisierungskritik seit den 1990ern die Kategorisierung in links und rechts weitgehend überflüssig gemacht hat, denn der rechte Ethnopluralismus, den sein Begründer Alain de Benoist nicht zufällig in Abgrenzung vom „universalistischen Antirassismus“ etwa eines Martin Luther King einen „differentialistischen“ nannte, ist in Wahrheit weitgehend genauso antirassistisch wie der Postkolonialismus ethnoplural ist. Welcher Postkolonialist, ob an der Columbia-Universität oder an der Berliner Universität der Künste, ob auf der Neuköllner Sonnenallee oder beim ANC in Pretoria wird Krah widersprechen wollen, wenn der feststellt, man müsse „anderen Kulturkreisen das Recht auf deren Identität in ihrem angestammten Gebieten gewähren“, weshalb der Islam unwiderruflich „zu Saudi-Arabien, der Konfuzianismus zu China, der Hinduismus zu Indien, der Buddhismus zu Myanmar, das orthodoxe Christentum zu Russland“ gehöre. (S. 117)

Halbherzige Assimilation

Dass in solch antiglobalistischem Denken der Antisemitismus angelegt ist, dürfte keine neue Erkenntnis sein. Die Behauptung allerdings, dass er bei Krah so offen zum Ausbruch kommen würde wie bei den linken Postkolonialisten oder er gar so konstitutiv für sein Denken sei wie bei jenen, geht nicht auf. Es sind gerade die gar nicht dezidiert rechten Ideen, die Krah stattdessen als jenen Typus eines Pseudokonservativen ausweisen, über den in Abgrenzung zum ordinären Faschisten es in den „Studien zum autoritären Charakter“ heißt, man könne pseudokonservativ oftmals auch durch pseudoliberal oder auch pseudoprogressiv ersetzen. Allerdings hielt es Adorno keineswegs für ausgemacht, dass der Pseudokonservative sich stets selbst treu bleiben könne, denn dessen Verhältnis zum Konservatismus sei nicht statisch, sondern könne auch bedeuten, dass „der Pseudokonservative von heute vielleicht der genuine Konservative von morgen“ sei – wobei Adorno hier mit Sicherheit nicht Horkheimers späte Rede vom „wahren Konservativen“ vorwegnahm.

Erblickt man im Maximilian Krah von heute den Pseudokonservativen, der er ist, dann erklärt sich mit Adorno zudem, warum Krahs Familienbegriff den der traditionellen bürgerlichen Kleinfamilie sprengt, deren zivilisierende Bedeutung für den Westen durch das endgültige Ende „aller feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse“ (Marx/Engels) man nicht hoch genug bewerten kann. Das ist einer der Gründe, warum Krah es nicht nur mit Russland, sondern auch mit China hält. Über die Pseudokonservativen heißt es weiter: „Die sture Energie, die sie aufwenden, um konventionellen Werten beizupflichten, droht fortwährend diese Werte selbst zu zerschlagen und in ihr Gegenteil zu verkehren, so wie ihr ‚fanatischer‘ Eifer, Gott und Vaterland zu verteidigen, sie dazu bringt, sich extremistischen Rackets anzuschließen und mit den Feinden ihres Landes zu sympathisieren.“ (9) Gesagt ist mit diesen Worten nicht, dass der AfD-Spitzenkandidat zur Europawahl einem extremistischen Racket angehört, auch mit den Feinden seines Landes sympathisiert er kaum mehr, als jene, die ihn wegen seines Mitarbeiters, der ein Spion für China ist, einen Vaterlandsverräter nennen und zeitgleich in devoter Haltung die Machthaber in Peking hofieren. Vielmehr gilt für Krah, seine Partei, aber eben auch für die wohlgelittenen Russland- und Chinaversteher, dass im antiglobalistischen Partikularismus, der keine universelle Idee der einen Menschheit mehr kennen will, die Racketbildung notwendig angelegt ist.

Auch in Krahs „Manifest“ taucht der Begriff der Remigration auf. Es ginge für Migranten darum, „sich entweder zu assimilieren oder aber zu remigrieren.“ (S. 57) Dass unter einem am postmodernen Antirassismus angelehnten Begriff von Kultur, die dem Individuum irreversibel innewohnen beziehungsweise anhaften soll, die Befürwortung von Assimilation nicht hoch im Kurs steht, solange jeder Migrant bereits qua „eigentlicher“ Existenz vorab zum wandelnden Assimilationshemmnis erklärt wird, ist das eine. Es bleibt festzuhalten, dass nicht nur Krah, sondern nahezu das gesamte neurechte Milieu von Schnellroda über Björn Höcke, die Identitären um Martin Sellner bis Elsässers Compact einen Kulturbegriff pflegt, der mehr mit der Aussage des strikt der türkischen Kultur verpflichteten Recep Tayyip Erdogan gemein hat, für den Assimilation ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, als es den genannten Vorkämpfern der Assimilation bewusst sein dürfte. Vor diesem Hintergrund hätte man die Forderung nach Assimilation, die laut Duden schlicht Angleichung bzw. Anpassung bedeutet, nicht nur gegen partikularistische und kulturrelativierende Anhänger des Antirassismus und der einzig wahren Religion zu verteidigen, sondern auch gegenüber Verfassern von rechten „Manifesten“ und deren Befürwortern – stets vorausgesetzt, man versteht unter Assimilation eine Anpassungs- bzw. Angleichungsleistung von Menschen, die Max Horkheimer in seiner Notiz „Der wahre Konservative“ als die „sich ihrer selbst bewussten Einzelnen“ bezeichnete, die statt eines besinnungslosen Wechsels vom bloßen Anhängsel der einen (allochthonen) zum bloßen Anhängsel der anderen (autochthonen) Kultur einen emanzipativen Akt der Individualisierung im Rahmen des objektiv Möglichen vollziehen. (10)

Als Krah-Fan führt sich in seinem Buch Remigration. Ein Vorschlag, das im Frühjahr 2024 ebenfalls im Kubitschek-Verlag erschien, auch der bekennende Heideggerianer Martin Sellner ein. (11) „Klar und deutlich“ würde Krah in seinem „Manifest“ darlegen, dass es um „politische Existenzfragen“ ginge, lobt Sellner. (S. 118) In der Correctiv-Veröffentlichung „Geheimplan gegen Deutschland“ vom 10. Januar 2024, auf dem er einen „Masterplan“ zur Remigration vorgetragen haben soll, firmiert Sellner einfach als „Neonazi“. (correctiv.org) Weil man auch ihm und seiner Gruppe der „Identitären“, die sich selbst zur „Bewegung“ hochjubelt – was mit Kusshand von interessierter Seite aufgegriffen wird, um öffentlich vorzugaukeln, man hätte es mit einer Massenbewegung zu tun – nicht nachweisen kann, einem militanten oder gar militaristischen, für Nazis und Faschisten konstitutiven Selbstverständnis anzuhängen, setzt man nicht nur bei Correctiv auf Lüge und Gerücht. Es reicht ein Blick auf die schlecht von links adaptierten gewaltfreien Aktionsformen der „Identitären“ und ihr sonstiges öffentliches Auftreten, um zu wissen, dass „echte“ Neonazis sicher anders agieren und sich in Szene setzen. Bleibt die Frage, was Sellner unter Remigration fasst und ob man das dann einen Masterplan nennen kann.

Nimmt man sich zur Klärung dieser Fragen das Buch Remigration. Ein Vorschlag vor, in dem Sellner seine einschlägigen Ideen bislang am ausführlichsten darlegt, dann fällt als erstes ins Auge, dass er gleich zu Beginn einen entlarvenden Punkt gegenüber seinen Gegnern macht. Genüsslich singt er der Bundeszentrale für politische Bildung ihre eigene Melodie vor, denn auch sie verwendet den Remigrationsbegriff um damit – O-Ton – die „Rückkehr von Migrantinnen und Migran­ten in ihr Herkunftsland bzw. an den Ausgangsort ihrer Migration“ zu bezeichnen. (S. 10) Bedenkt man zusätzlich, dass es auf Wikipedia zum Begriff Remigration ganz unbefangen heißt, er fände „in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie in der Exilforschung Anwendung“ (12), dann kann an der im Frühjahr aufgekommenen und besonders von oben geschürten Hysterie gegen rechts etwas nicht stimmen und Sellner mindestens nicht völlig falsch liegen, wenn er feststellt, dass „Begriff und Idee [der Remigration] weder neu noch besonders radikal“ seien und sein „Vorschlag […] lediglich eine Intensivierung und Vertiefung des Bestehenden“ darstellt. (S. 11 f.) Remi­gration sei für ihn Teil „einer identitären Migrationspolitik“, schreibt Sellner, wobei es bei der Lektüre solcher Zeilen gewöhnungsbedürftig bleibt, dass das Wort identitär entgegen seiner ursprünglichen Bedeutung hier nicht kritisch, sondern affirmativ Verwendung findet. (S. 8)

Auffällig ist, dass Sellner nur sehr sparsam den Kampfbegriff „Bevölkerungsaustausch“ verwendet und stattdessen lieber in Berufung auf den von den UN geprägten Begriff der „Replacement Migration“ von „Ersetzungsmigration“ spricht und damit, die UN zitierend, meint, diese würde als „Lösung für schrumpfende und alternde Bevölkerungen“ auch die „herrschende Bevölkerungspolitik“ bestimmen. (S. 13) Hält man es nicht mit Correctiv oder dem Verfassungsschutz, dann bleibt nur festzustellen, dass diese Aussage Sellners nicht radikal oder demokratiefeindlich ist, sondern genauso sachlich richtig wie sein Hinweis darauf, dass zahlreiche Studien belegen würden, „dass ‚Diversity‘ im Sinne ethnischer Vielfalt keine Quelle von Bereicherung, sondern im Gegenteil eine große Belastung darstellt.“ (S. 19) Es ist nicht überliefert, ob es unerschrockene Kämpfer gegen rechts besonders triggert, wenn Sellner ihnen ganz ähnlich wie der britische Ökonom Paul Collier die Wahrheit über die real existierende Migrationspolitik ins Stammbuch schreibt, dass in vielen Fluchtländern „auch deswegen kein Mittelstand“ entstehen würde, „weil das vorhandene Kapital eher in die Bezahlung für einen Schlepper investiert wird.“ (S. 134)

Selbst Sellners „drei Faktoren“ für „Migrationsquoten und Remigrationspotentiale“: „1. Ökonomische Belastung“, „2. Kriminologische Belastung“, „3. Kulturelle Belastung“ kann nur pauschal verdammen, wer unter den Bedingungen von Sozialstaat und Kapital entweder unter einem wie auch immer gearteten ideologischen Realitätsverlust leidet oder aber von staatsfeindlicher, das heißt revolutionärer Sehnsucht nach besinnungsloser Zerstörung selbst noch des zu Bewahrenden getrieben ist. Aus der Welt schaffen lässt sich auch nicht die von der Empirie gedeckte Feststellung Sellners, dass in den drei benannten Bereichen mit Blick auf die Migration „mehrheitlich nichteuropäische, afroarabische und islamische Parallelgesellschaften“ das Problem darstellten. Sellners Einlassungen klingen viel zu sehr nach Kanzler Scholz im Spiegel-Interview, in dem der von der Notwendigkeit einer „Abschiebe-Offensive“ sprach oder nach dem mittlerweile vom Bundestag verabschiedeten sogenannten Rückführungsverbesserungsgesetz. Sellner bemüht sich sogar um Differenzierung: „Selbstverständlich sind nicht alle Mitglieder einer Herkunftsgruppe gleichermaßen für bestimmte Probleme verantwortlich. Die Remigration fokussiert sich daher auch innerhalb der Herkunftsgruppen auf problematische Individuen wie Kriminelle, Dauerarbeitslose, Fundamentalisten und andere, die Belastung für die Aufnahmegesellschaft sind.“ (S. 56 f.) Problematisch wird Sellners Remigrationsidee auch dann nicht, wenn er, Ungarn, Dänemark und Israel in einen Topf werfend, diese drei Staaten zu Vorbildern in Sachen Migrationspolitik erklärt, für Migrationsquoten plädiert und nach deren Erfüllung für eine Lotterie á la Greencard eintritt. Seinen Vorschlägen zur „Deislamisierung“, die er einen „Spezialfall des Assimilations- und Remigrationdrucks“ nennt und die „eine gezielte Zurückdrängung des politischen Islams in unserem Land und in Europa“ meint, kann man gar über weite Strecken folgen, sei es beim Verbot „radikalislamischer Vereine“, dem Untersagen der Auslandsfinanzierung von Moscheen, dem vorgeschriebenen Predigen auf Deutsch oder einem weitgehenden Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen. Zuweilen muten Sellners Deislamisierungvorschläge aber auch naiv an. So bei der stets netten Idee, es sei ein „an unsere Verhältnisse angepasster säkularer ‚Euroislam‘ […] als legitime Ausdrucksform des Islam“ zu begründen. Das klingt so, als hätte Sellner noch nicht mitbekommen, dass der Vater des Euroislam, Bassam Tibi, schon vor Jahren dieses Unterfangen als nicht realisierbar bezeichnet hat. (S. 76)

Der Öffentlichkeit vorenthalten

Wenn in Remigration. Ein Vorschlag für „jede Remigrationszielgruppe […] drei mögliche Kategorien entsprechend des Aufenthaltstitels“ genannt werden, „A) Asylanten“, „B) sonstige Ausländer“, „C) nichtassimilierte Eingebürgerte und Staatsbürger“ (S. 57), dann klingt das zwar nach typisch hässlichem Bürokratendeutsch einer x-beliebigen Ausländerbehörde, daraus jedoch die Anwartschaft Sellners auf das Erbe Adolf Eichmanns herauszulesen, wie Anfang des Jahres mit dem Wannseekonferenz-Vergleich mehr als nur insinuiert wurde, könnte kaum irrer sein. So soll für „Asylanten“ das Asylrecht nicht abgeschafft, sondern „wieder zu dem (werden), was es sein sollte: Schutz auf Zeit.“ Mit „sonstige Ausländer“ als Remigrationsfälle bezeichnet Sellner all jene, „die mit einem anderen Titel als dem Asylrecht im Land leben und dem Land dauerhaft zur Last fallen“ und plädiert damit für einen hässlichen Utilitarismus, den man ablehnen muss. (S. 59, S. 61) Die Gruppe, die Sellner „nichtassimilierte Eingebürgerte und Staatsbürger“ nennt und um die es nach der Correctiv-„Enttarnung“ die meisten Gerüchte und größte Empörung gab, definiert Sellner als „eingebürgerte Migranten, die sich nicht assimilieren wollen oder können und eine Belastung für die Gesellschaft darstellen.“ Es ginge dabei nicht um fehlenden deutschen Patriotismus, den vermisst Sellner wenig überraschend auch bei „vielen Deutschen“. „Das Problem […] besteht darin, dass die Betreffenden einerseits alle Rechte eines deutschen Staatsbürgers haben, insbesondere das aktive und passive Wahlrecht, andererseits aber sich immer noch mit einem fremden Land und seiner Kultur identifizieren.“ Nur folgerichtig soll dann auch die Praxis doppelter Staatsbürgerschaft bei dieser Gruppe möglichst ein Ende finden. Man sollte in dieser Aussage die in ihr angelegte Willkür erkennen, denn wo beginnt zu viel Identifikation mit der Fremde und wo endet sie? Dass Sellner allerdings damit auch den Finger in die Wunde insbesondere der zahlenmäßig größten Migrantengruppe der Türkischstämmigen legt, kann ihm nur vorwerfen, wer das massenhafte Bekenntnis zum Türkentum, das immer die Abwertung autochthoner Deutscher zu minderwertigen Kartoffeln oder Weißbroten, von Christen, Juden, Aleviten, Kurden, ja selbst von Arabern beinhaltet, kleinredet oder gleich ganz ignoriert.

Die meist professionellen Schönredner hässlicher Realitäten sind es dann auch, die akribisch darauf achten, dass Sellnersätze wie die nachfolgenden der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben: „Keinesfalls sollen auf kultureller, religiöser oder ethnischer Basis Staatsbürgerschaften entzogen werden. Es darf und wird auch keine Staatsbürger zweiter Klasse geben. Solche Maßnahmen sind nicht nur juristisch untragbar, da sie mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind. Sie würden die Rechtstreue und das Vertrauen in die Isonomie, die Gleichheit vor dem Gesetz, unheilbar zerrütten“. Man sollte ob solch hehrer Worte seine gesunde Skepsis keineswegs ablegen, ja man kann diese Aussagen gar für Camouflage und Theater halten. Aus der Welt schaffen lässt sich dennoch nicht, dass ausgerechnet Sellner sie niedergeschrieben hat und dass die von ihm angestrebte „Normalisierung der Demografie durch Remigration […] weder einen ‚Rassestaat‘ noch ‚Nürnberger Gesetze’“ meint.

Zwar bietet die Lektüre seines Remigrationsbuches keinen Anhaltspunkt für die Unterstellung, Sellner sei ein NS-Nostalgiker und damit ein der Blut und Boden-Lehre verpflichteter Neonazi; ganz so einfach wie Sellner es darstellt, ist es dann doch nicht um seine „Remigrationspolitik“ bestellt, für deren erfolgreiche Umsetzung er einen Zeitraum von 15 bis 30 Jahre veranschlagt, wenn er entwarnend schreibt, sie ziele nur „auf die Frage der Loyalität, der Rechtstreue und der Leistungsbereitschaft“ von Migranten. (S. 65 ff.) In diesem Satz unterschlägt Sellner, dass es ihm zentral um „ethnokulturelle Identität“ zu tun ist (S. 133), für die er sich ausdrücklich auf Alain de Benoist beruft und mit ihm, anders als gern über dessen Ethnopluralismus kolportiert wird, betont, dass die Bejahung der Existenz eines Volkes nicht bedeute, dass „kollektive Identität“ immerwährend und überzeitlich „letztgültig definiert und ‚festgestellt‘ werden“ könne. Dennoch aber sei Volk eine „ethnokulturelle Gemeinschaft mit einem generationenübergreifenden Wir-Gefühl“, um deren Erhalt und deren Entfaltung „als Ausdruck der ethnokulturellen Vielfalt der Welt“ zu kämpfen sei. Er betont zwar, dass „Volk keine homogene Masse“ darstelle, sondern auch „gewachsene Minderheiten“ umfasse. (S. 28 u. S. 37) Ein „realistischer Volksbegriff“ hätte „zwingend“ zur Voraussetzung, den „historischen Schuldkultblock“ zu überwinden. Dafür beruft sich Sellner wenig überraschend ausdrücklich auf die Rede Björn Höckes von einer notwendigen „erinnerungspolitischen Wende“, damit man von Auschwitz nichts mehr hören muss. (S. 26)

Gegen Abstammung

Sellners „realistischer Volksbegriff“ richtet sich insbesondere gegen das Ius soli-Prinzip, wonach Staatsbürger automatisch jeder wird, der auf dem jeweiligen Staatsterritorium geboren wurde, egal welche Nationalität die Eltern besitzen. In dieser Ablehnung des Territorialprinzips ist er sich nicht nur mit Maximilian Krah einig, sondern mit allen, die gern als neue Rechte bezeichnet werden. Zur Begründung der ethnokulturellen Existenz des Volkes setzt man unisono auf das blutsmäßige Abstammungsprinzip des Ius sanguinis, das für die Bundesrepublik bis zur rot-grünen Staatsbürgerrechtsreform im Jahr 1999 prägend war. Seitdem gilt das Ius-Soli Prinzip in eingeschränkter Form, was bedeutet, dass wenigstens ein Elternteil seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben und zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzen muss. Das Kind besitzt damit qua Geburt in Deutschland neben der Staatsangehörigkeit seiner Eltern automatisch die deutsche. Sellner, Krah et al. geht es mit ihrer Forderung nach Rückkehr zum Abstammungsprinzip darum, dass, in den Worten Maximilian Krahs, „das Staatsvolk nicht vom Kulturvolk entkoppelt werden“ dürfe, mithin die Verknüpfung von Demos und Ethnos wiederhergestellt wird, wie sie als konstitutiv für die Bestimmung des Staatsvolkes bis zur Staatsbürgerrechtsreform offiziell Bestand hatte. (S. 170)

Galt man vor der Reform nicht als der Verfassungsfeindlichkeit verdächtig, wenn man das ius sanguinis verteidigte, so hat sich dies seitdem, korrelierend mit der Zunahme des staatsantifaschistischen Kampfes gegen rechts, sukzessive geändert. Diesen Umstand hat Mathias Brodkorb, der nicht als Sympathisant der neuen Rechten gilt, mit seinen umfangreichen Recherchen zu verschiedenen Beobachtungsfällen des Verfassungsschutzes (VS) skandalisiert. So sei Götz Kubitscheks Schnellrodaer Institut für Staatspolitik laut internen Unterlagen des VS schon deshalb ins Visier geraten, weil man dort „beim Volksbegriff überhaupt auf ethnisch-kulturelle Kriterien Bezug nimmt“, was in den Augen des VS mittlerweile „per se gegen die Menschenwürde“ verstoßen würde – und rückwirkend selbst Helmut Kohl und dessen Bemühungen um die Einwanderung von Russlanddeutschen wegen deren Volkszugehörigkeit schon deswegen zum Verfassungsfeind macht, weil auch der von einem „Begriff der Deutschen“ ausging, „der nicht mit der bloßen Summe der Staatsbürger identisch“ gewesen sei. „Jedenfalls“, so konstatiert Brodkorb, „ergibt der Terminus ‚Volkszugehörigkeit‘ ohne ethno-kulturelle Dimension einfach keinen Sinn.“ (Welt, 28.3.2024) Man muss nicht erst zum Freund des Abstammungsrechtes und schon gar nicht von unschönen Gestalten wie Sellner und Krah werden, um zu erkennen, dass offenbar schon die Sehnsucht nach dem Staatsbürgerrecht der Bonner Repu­blik, die sich bekanntlich nicht als Einwanderungsland verstand, ausreicht, um heute als gesichert rechtsextrem zu gelten. Die AfD besetzt die konservative Leerstelle, die die CDU/CSU hinterlassen hat, seit auch sie sich endgültig vom Ius sangunis-Prinzip lossagte. Weiß man, dass der immer stärker werdende neurechte AfD-„Flügel“ sich zur Gesamtpartei verhält wie seinerzeit die Stahlhelmfraktion zur Rest-CDU, dann könnte man auch wissen, dass sich der nur durch die objektiven Umstände verhinderte Faschist Björn Höcke zu Parteichefin Alice Weidel in etwa so verhält wie der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Kopf der Stahlhelmfraktion, Alfred Dregger, zu seinem Chef und Verfechter der Einheit von Staats- und Kulturvolk, Helmut Kohl – mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass den beiden AfD-Leuchten ganz sicher das staatsmännische Format der verblichenen CDU-Granden abgeht und die AfD schon wegen ihrer antiwestlichen, gegen das transatlantische Bündnis gerichteten Ausrichtung gesichert keine neue alte CDU ist.

Sören Pünjer (Bahamas 94 / 2024)

Anmerkungen:

  1. Mathias Wörsching: Faschismustheorien, Stuttgart 2021, 215
  2. Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main 1995, 209
  3. Dass Strauß dies überhaupt gesagt hat, gilt als ungesichert.
  4. Leo Löwenthal: Falsche Propheten, Berlin 2021, 30f.
  5. Seitenzahlen des Krah-Buches sind nachfolgend in Klammern angegeben
  6. Adorno: a.a.O., 206
  7. Carl Schmitt: Politische Theologie, Berlin 1996, 8
  8. Franz Neumann: Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt am Main 1967,157 f.
  9. Adorno: a.a.O., 215f.
  10. Max Horkheimer: Gesammelte Schriften Band 6, Frankfurt am Main 1991, 409
  11. Seitenanzahlen des Sellner-Buches sind nachfolgend in Klammern angegeben.
  12. zuletzt abgerufen am 23.4.2024

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