Titelbild des Hefts Nummer 93
Für Israel
gegen die postkoloniale Konterrevolution
Heft 93 / Winter 2024
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One Family gegen Israel

Impressionen aus dem Innenleben der Club-und Raveszene

Das Open-Air-Musikfestival Supernova Sukkot Gathering sollte als Ableger des Universo Parallelo, das in Brasilien seit zwanzig Jahren etabliert ist und „als eines der größten alternativen Kulturfestivals in Südamerika“ (groove.de, 9.10.2023) gilt, vom Abend des 6. Oktober bis zum ­darauffolgenden Nachmittag das erste Mal in Israel stattfinden. Diese Premiere wurde im Vorfeld von den Veranstaltern Tribe of Nova als Feier von „Freunden, Liebe und unendlicher Freiheit“ angekündigt. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hatten sich die Organisatoren eine passende Location ausgesucht: „Die Veranstaltung findet an einem kraftvollen, natürlichen Ort voller Bäume statt, der in seiner Schönheit atemberaubend ist und für Ihre Bequemlichkeit organisiert wurde, etwa eineinviertel Stunden südlich von Tel Aviv“. (fr.de, 10.10.2023) Da das ursprünglich vorgesehene Festivalgelände im Süden Israels jedoch nicht mehr zur Verfügung stand, gab man den schätzungsweise drei- bis viertausend Besuchern nur wenige Stunden vor Beginn am Abend des 6. Oktober den alternativen Standort unweit des Kibbuz Reʿim in der Region Eschkol bekannt. Die Entscheidung für dieses Areal, das nur wenige Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt ist, sollte sich im Nachhinein als fatal erweisen, denn aufgrund dieser Nähe geriet der Rave ins Visier jener „barbarischen (und) sadistischen Tiere“, die unter Federführung der Hamas in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober Israel überfallen hatten und die Partyzone in ein „Schlachthaus“ verwandelten, wie der israelische Staatspräsident Jitzchak Herzog es nannte. (welt.de, 30.10.2023)

Dancefloorhölle

Dass es sich bei dieser Einschätzung nicht um eine Übertreibung handelt, belegen die zahlreichen Berichte von Überlebenden. Demnach schlugen gegen 6:30 Uhr erste Raketen ein, wenig später stürmten etwa 50 Terroristen das Gelände und schossen wahllos in die Menge. Auf die Flüchtenden wurde eine regelrechte Treibjagd veranstaltet. (groove.de, 9.10.2023) Der Promoter Raz Gaster konnte noch während des Raketenangriffs mit seinem Team in eine etwa 30 Kilometer entfernte und eigens für das Festival angemietete Villa fliehen. Als sie diese erreichten, hatten er und seine Begleiter „das Ausmaß der Dinge noch nicht verstanden, aber da es Raketenbeschuss gab, sind wir natürlich als erstes in den Bunker gegangen. Erst dann bekamen wir die Anrufe, Nachrichten und Notrufe von all den Menschen vor Ort und auf den Straßen, die in Hinterhalte gerieten, von Terroristen beschossen wurden oder sahen, wie andere abgeschlachtet wurden. Das war genau der Punkt, an dem wir die Situation erkannten und begannen, mit allen zu kommunizieren, die wir erreichen konnten. Innerhalb weniger Minuten riefen wir die gesamte Veranstaltungsbranche, Musik- und Event-Community an, um ihnen zu verstehen zu geben, dass ein Notstand herrscht. Dann waren das Militär und die Polizei dran, wir wollten so vielen Menschen wie möglich erklären, was vor sich geht, damit die Menschen, die noch am Veranstaltungsort waren, Hilfe bekamen. […] Viele von ihnen haben sich tot gestellt, in Müllcontainern versteckt oder sind meilenweit in die Wüste gerannt, um von den Terroristen wegzukommen. Die Menschen sahen die Hölle vor ihren Augen. Das ist das Schlimmste, schlimmer als jedes andere Worst-Case-Szenario. Es war ein Massaker, ein Gemetzel.“ (musikexpress.de, 15.10.2023) Diese Schilderungen decken sich mit den Fakten, die mittlerweile bekannt sind. Demnach haben sich die Sturmtruppen der Hamas während des Überfalls in einen hemmungslosen Blutrausch hineingesteigert, der neben der ideologischen Komponente noch einen zusätzlichen Schub durch die bei Dschihadisten beliebten Droge Captagon (The Jerusalem Post, 29.10.2023) erfuhr. Sie ermordeten mindestens 260 Menschen, und seitdem der sogenannte Islamische Staat neue Maßstäbe in Sachen Bestialität setzte, ist es fast folgerichtig, dass „junge Frauen massenweise auf brutale Art und Weise von den Terroristen neben den Leichen ihrer bereits exekutierten Freund:innen vergewaltigt und verstümmelt wurden.“ (taz.de, 12.10.2023) Zudem verschleppten sie eine beträchtliche Anzahl von Besuchern des Festivals, darunter wiederum vorzugsweise Mädchen und Frauen, als Geiseln nach Gaza. Im Nachgang zu dem „Massaker von Re’im“ (Wikipedia) wurde darüber spekuliert, ob die Hamas von dem Open Air in unmittelbarer Nähe zur israelischen Grenze wusste oder ob dieses lediglich durch Zufall beim Vordringen auf israelisches Gebiet entdeckt wurde. So oder so: Der Rave kam den Mordbanden bei ihrem Feldzug jedenfalls nicht ungelegen, denn gerade Events, die im erweiterten Sinn der elektronischen Dancemusic-Szene zuzurechnen sind, zeichnen sich durch exzessives Feiern und drogeninduziertes Dauertanzen in Verbindung mit Freizügigkeiten aller Art gerade auch für Frauen aus und gelten damit islamischen Tugendwächtern als Inbegriff der zu bekämpfenden westlich-dekadenten Popkultur.

Der Sound von Goa

Das Supernova-Festival war kein klassischer Techno-Rave, sondern stand ganz im Zeichen von Goa- und Psytrance. Diese Spielarten elektronischer Musik gehen zurück auf den an der Westküste des indischen Subkontinents gelegenen Bundesstaat Goa, der in den ausgehenden 1970er Jahren zunehmend Hippies und Aussteiger anzog. Vor allem die lauen Nächte und der Strand waren die perfekte Kombination für die sich etablierenden Outdoor-Trance-Partys, deren Soundtrack zu dieser Zeit aus Musik von „Grateful Dead, The Doors, Pink Floyd, Neil Young und ähnlich vertripten Sounds“ (1) bestand. Vor allem „Pilze, LSD und der ein oder andere Joint verhalfen dem Spaßfaktor notfalls zusätzlich auf die Sprünge.“ Ab Mitte des darauffolgenden Jahrzehnts sorgten europäische DJs bei den Partys dafür, dass Psychedelic Rock und Reggae nach und nach von elektronischer Musik, insbesondere Electronic Body Music und Eurodance, verdrängt wurden. Sie kreierten fortan einen eigenständigen Sound, dessen Basis ein „beständige(r) 4-to-the-floor-Beat“ im Zusammenspiel „mit einer groovenden Basslinie“ ist. Darauf werden dann allerlei Hooklines, Melodien, Flächen und eine Unmenge blubbernder, zirpender, zischender und knarzender Sounds gelegt, (welche) die durch Drogen gefilterte Wahrnehmung zum Abflug einladen.“ Charakteristisch für den Anfang der 1990er Jahre produzierten Goa-Trance ist „eine umfassende Verwendung von vielschichtigen Acid-Loops, Soundlayers und Melodien“. Gegenüber dieser mittlerweile als Oldschool bezeichneten Variante flossen in spätere Produktionen auch Breakbeats ein, „um dem Rhythmus mehr Drive und Groove zu verleihen.“ Die entstehende Szene war zu Beginn der 1990er Jahre zunächst ein eher lokales Phänomen in Goa und rekrutierte sich aus den bereits dort ansässigen Hippies sowie einer zunehmenden Zahl von zumeist deutschen sowie israelischen Rucksacktouristen, die den Ort und die damit in Verbindung gebrachte Musik als neue Partyattraktion entdeckten. DJs wie Sven Väth oder Paul Oakenfold sorgten schließlich für „die Verbreitung des Goa-Sounds in den Clubs der alten Welt“ und im weiteren Verlauf fand eine Modifikation hin zum Psytrance statt. Dieser ist eine „eher technoid anmutende Fortführung des Goa-Trance, die nicht zuletzt durch verbesserte Produktions-Techniken und kraftvollere Soundsystems auf Partys Ende der Neunziger aufkommt.“

Friedliche Trance

Goa- und Psytrance sind im Bereich jener Produktionen zu verorten, die auf einem maschinell erzeugten elektronischen und beatlastigen Sound basieren. Doch „im Gegensatz zu anderen Arten elektronischer Tanzmusik“ sind „die Einflüsse der psychedelischen Musik der 60er/70er Jahre stark zu spüren“, was sich daran zeigt, dass die Integration von Acid- und Psychedelic Rock im Zusammenspiel mit indischen Soundelementen stilprägend ist. Jedoch sind es nicht nur die musikalischen Bezüge, sondern auch die ideologischen Basics, welche die Eigenwahrnehmung plausibel erscheinen lässt, dass „die Goa-Szene die legitime Nachfolge der Hippie-Kultur“ angetreten hat. Die Grundsätze dieser Bewegung, die in San Francisco entstand, sind auf die zunehmende Konjunktur fernöstlicher Spiritualität Mitte der 1960er Jahre zurückzuführen, auf deren Basis Naturverbundenheit gepredigt sowie daran anknüpfend eine Kritik der Konsum- und Leistungsgesellschaft formuliert wurden. Weiterhin ging es um die Ablehnung der zu dieser Zeit gängigen Lebens- und Moralvorstellungen in Bezug auf Sexualität und die klassische familiäre Rollenverteilung. Diese Vorstellungen kulminierten in einem gesinnungsethisch grundierten Pazifismus, der insbesondere in Form der Friedensbewegung gegen den Vietnamkrieg und der dazugehörigen Formel „Make love, not war“ zum Ausdruck gebracht wurde. (2) Unter Bezugnahme auf diese Ursprünge legt die Goa-Szene großen Wert darauf, dass auf den Partys „eine sehr friedliebende, herzliche und respektvolle Atmosphäre“ (3) herrscht, die als Voraussetzung dafür angesehen wird, dass sich bei den Besuchern „Bewusstseinserweiterung, Liebe, künstlerische und psychische Selbsterfüllung“ einstellen. Die postulierte „kritische Haltung gegenüber einer leistungsorientierten Gesellschaft“, die wohl als Realitätsflucht zu übersetzen wäre, soll stimuliert werden, indem Waldstücke, Wiesen, Seen oder Strände die bevorzugten Veranstaltungsorte sind. Sie sollen den Rahmen dafür schaffen, dass die Raves „auch optisch eine Reise in eine andere Welt (versprechen): farbenfrohe, häufig UV-Licht-aktive Dekoration mit psychedelischen Motiven auf denen Märchenlandschaften (inklusive Feen, Zwergen und Pilzen) oder Mondlandschaften und Alien-Motive dargestellt sind. 3-D Installationen und andere Visuals ergänzen den optischen Trip.“ (4) Der dazugehörige Sound sorgt schlussendlich dafür, dass sich die Partys zu „großen Trance-Ritualen“ entwickeln: „Das stundenlange Tanzen zur monotonen Rhythmik der Musik zum Teil in Verbindung mit dem Gebrauch psychoaktiver Substanzen ermöglicht den bewusstseinsverändernden Übergang in einen tranceartigen Zustand. Dabei werden im Körper Endorphine freigesetzt, die ein euphorisches Gefühl auslösen. Es wird möglich loszulassen, innere Blockaden zu lösen und in einen Flow zu gelangen.“ (5)

First we take Goa…

Die Partys und der Sound begeistern nicht nur Teile der europäischen Partyszene. Seit geraumer Zeit ist „Psychedelic Trance […] eine große Sache in Israel, sehr groß! Manchmal scheint es, als ob jeder ihn liebt. Vom Taxifahrer bis zum Soldaten, vom 50-jährigen Raver bis zum Kind, das noch zu jung ist, um einen Ausweis zu haben – alle hören diese einstige Underground-Musik“ (6). Diese Popularität hat nicht nur zur Folge, dass einzelne Acts in den Charts auftauchen. Vielmehr können international bekannte Szenegrößen des Landes wie Infected Mushroom mit mehreren zehntausend Fans bei ihren Shows rechnen. (7) Vor diesem Hintergrund haben sich viele Partyformate bis hin zu großen Festivals etabliert, die über die Landesgrenzen hinaus in der Szene sehr geschätzt werden: „Wenn Sie einen DJ fragen, wird er Ihnen sagen, dass die Partys hier etwas ganz Besonderes und sehr engagiert sind.“ (8) Auch abseits großer Events „tauchen (ständig) neue Veranstalter auf, die kleine und wirkliche Underground-Naturpartys im ganzen Land organisieren“ (9). Diese finden vorzugsweise in der Wüste statt und sorgen für eine ganz besondere Atmosphäre, so dass „wie an keinem anderen Ort der Welt […] die israelische Psytrance-Szene ein intensives und originalgetreues Psy-Erlebnis (bietet).“ (10) Ungeachtet dessen ist das indische Goa nach wie vor eine feste Bezugsgröße, denn ein „Großteil der weltweiten Psy-Szene und die größten Psy-Acts treffen sich jedes Jahr an den wunderschönen Stränden und anderen fantastischen Orten, um einige der besten Partys der Welt zu feiern“ (11), wobei sich mittlerweile die dortige „Partyszene und -organisation […] fest in israelischer Hand“ (12) befände. Das sollte nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass jährlich bis zu dreißigtausend junge Israelis nach Indien reisen. (tagesspiegel.de, 5.1.2010) Ein Großteil davon sind ehemalige Wehrpflichtige, die „nach dem dreijährigen Wehrdienst […] ihre Abfindung von 15.000 Schekel (nehmen) und sich davon eine Auszeit (finanzieren).“ (jüdische-allgemeine.de, 20.11.2008) Der Filmemacher Yoav Shamir, der sich in seiner Dokumentation „Flipping Out“ dem Phänomen widmete, spricht davon, dass es „eine gesellschaftliche Konvention, fast eine Selbstverständlichkeit“ sei, direkt nach dem Armeedienst „die Militäruniform mit Hippie-Klamotten (zu tauschen).“ (abendzeitung-münchen.de, 8.5.2008) Was sich zunächst wie ein relativ harmloser Entspannungsurlaub in Indien anhört, „wird oft zu einem unkontrollierten, verhängnisvollen Drogentrip. Schon morgens kreisen die Joints, ab Mittag gibt es LSD. Drogen sind billig in Indien und alle nehmen welche.“ (tagesspiegel.de, 5.1.2010) Chaim Mehl von der israelischen Antidrogenbehörde gibt hierzu zu bedenken, dass sie als „Soldaten schlimme Dinge gesehen (haben), Freunde von ihnen sind gestorben, das wollen sie vergessen und flüchten sich in Drogen, weil sie sich dann frei und besser fühlen.“ (tagesspiegel.de, 5.1.2010) Neben halluzinogenen Pilzen, LSD, Ecstasy, Kokain und Opium stelle auch das Haschisch der Hindus, „Charras“, ein Problem dar, da dieses weitaus stärker als das in Israel erhältliche ist. Für einige ist der tägliche Konsum dann „zu viel. Sie brechen zusammen, halluzinieren, verlieren in jeder Beziehung die Orientierung“ (tagesspiegel.de, 5.1.2010) und benötigen eine aufwendige Therapie.

… and then we take Berlin

Neben dem exotischen und für Abstürze berüchtigten Goa rückt Berlin seit einigen Jahren in den Fokus israelischer (Party-)Touristen, die mittlerweile eine „relativ große Rolle in der Berliner Tourismusindustrie“ (13) spielen. Die Soziologin Dani Kanz, die für die Bertelsmann-Stiftung eine Studie mit dem Titel „Israelis in Berlin – wie viele sind es und was zieht sie nach Berlin“ erstellte, konstatierte „eine wachsende Migrationsbewegung vor allem junger Israelis, die ihr Land Richtung Deutschland verlassen.“ (deutschlandfunk.de, 26.5.2017) In der israelischen Community wird auch vermerkt, dass zunehmend „eine auffällig bürgerliche Migration“ von Familien auf der „Suche nach einem höheren Lebensstandard“ (14) zu beobachten sei. Neben Spaniern, Griechen, Engländern, Amerikanern und Australiern ist auch für sie „die deutsche Hauptstadt […] zum Sehnsuchtsort geworden. Hier wollen sie ihren Lebensunterhalt verdienen und hoffen fest auf eine Chance. Was noch für ihre Eltern unmöglich war, ist für die so genannte Dritte Generation, Enkel der Generation der Holocaustüberlebenden, kein Problem: In der Großstadt, in der der Massenmord ihrer Vorfahren organisiert wurde, suchen sie Freiheit und Selbstverwirklichung.“ (deutschlandfunkkultur.de, 23.3.2015) Nach eigenem Bekunden biete die Stadt auch für Jungunternehmer günstige Bedingungen: „Hier gibt es jede Menge Startups, so viele Menschen, die sich mit neuen Technologien beschäftigen. Gute Ingenieure, Leute, die etwas von Marketing verstehen, die Stimmung ist einfach sehr positiv. Internettechnologien werden sehr ernst genommen. Die Risikobereitschaft von Gründern und Geldgebern ist hoch. Das ist perfekt. […] Die israelischen Startups, die ich kenne, wollen nach Berlin.“ (ebd.) Doch nach wie vor sind es „überproportional viele Menschen mit Abschlüssen in den Sozial-, Geistes und Kulturwissenschaften“ (deutschlandfunk.de, 26.5.2017), die ihren Lebensmittelpunkt an die Spree verlegen, da die „Internationalität der Stadt […] Freiräume in jeder Form der Lebensführung“ (deutschlandfunkkultur.de, 23.3.2015) ermögliche. Dementsprechend waren es „‚die Künstler‘, die früher in israelischen Kreisen den Ton angaben und deren Ausstrahlung bis heute noch das Berliner Bild vom coolen, alternativen, typischerweise linken Israeli prägt: jung, alleinstehend, oft homosexuell“ (15), wobei die Sympathiewerte der Neuberliner in der Szene steigen, wenn sie, so wie der Schriftsteller Mati Shemoelof, „fest in der zionismuskritischen politischen Szene Israels verankert“ (taz.de, 12.7.2014) waren und sich somit als glaubwürdige „Post-Israel-Juden“ (deutschlandfunkkultur.de, 23.3.2015) erweisen. Zwar galt „Berlin […] schon seit den 1990er Jahren als die internationale, alternative und subversive unter den großen und dennoch billigen Metropolen“ (16), doch einer der Schlüsselmomente dafür, dass ungefähr zwanzigtausend israelische Staatsbürger ihren Wohnsitz in die deutsche Hauptstadt verlegt haben, dürfte die Fußball-WM 2006 gewesen sein. Im Zuge des so genannten Sommermärchens „wurde Deutschland anders wahrgenommen, die haben Spaß (und) feiern auf der Straße“. Seither erscheint der „ernsthafte, böse Deutsche“ (ebd.) lediglich als ein Relikt der Vergangenheit, wie ein Protagonist bestätigt: „(I)ch wäre nicht in Berlin, wenn ich nicht wüsste, dass die Deutschen heute anders sind als noch vor drei Generationen.“ (welt.de, 29.4.2015) Bezugspunkt für eine solche Aussage ist vor allem die vielbejubelte Party- und Clubszene der Hauptstadt, die sich viel auf ihre Weltoffenheit und Toleranz gegenüber jeder noch so barbarischen kulturellen Eigenheit einbildet, solange diese nicht als rechts und oder diskriminierend gilt.

In Berlin feiert man nicht nur zu besonderen Anlässen auf der Straße; die Stadt gilt vielen jungen Israelis als die erschwingliche Partymetropole schlechthin: „Wenn man in Berlin ankommt, geht man erst einmal aus, man amüsiert sich und hat Spaß.“ (deutschlandfunkkultur.de, 23.3.2015) Der DJ und Musikproduzent Doron Eisenberg ist „vor allem wegen der Musik nach Berlin gekommen, denn Berlin ist weltweit die Hauptstadt der elektronischen Musik. Eine Menge Künstler kommen wegen der offenen Atmosphäre und des billigen Lebens hierher.“ (deutschlandfunk.de, 26.5.2017) Diese Offenheit ermöglichte es zum Beispiel Aviv Netter, selbst „Teil des gefeierten Berliner Nachtlebens“ (welt.de, 29.4.2015) zu werden. Er veranstaltete im mittlerweile geschlossenen Sophienclub die „Meschugge“-Partyreihe, die sich auch deshalb großer Beliebtheit erfreute, da sie dem Anspruch verpflichtet war, „ideologische Schranken“ (ebd.) überwinden zu wollen. Ganz in diesem Sinne war für Netter die von ihm in der Location platzierte Israel-Fahne lediglich „ein Witz“ (ebd.) und keine politische Aussage. Mit der selbst auferlegten Maßgabe, sich keiner politischen Parteinahme verdächtig zu machen sowie unter dem Eindruck, dass Berlin ein „liberaler, kosmopolitischer Ort“ (taz.de, 12.7.2014) sei, sprechen etliche junge Israelis „oft über den Frieden, den sie hier finden können“ und der es ihnen ermögliche, „bewusst und manchmal auch unbewusst den Kontakt zu Palästinensern und Arabern“ (deutschlandfunkkultur.de, 23.3.2015) zu suchen. Der Restaurantbetreiber Ze’ev Avrahami, von dem diese Aussage stammt, hätte manchen Kontakt sicher gerne vermieden: „Da ist dieser Falafel-Verkäufer auf dem Wochenmarkt am Kollwitzplatz. Sobald er Juden oder Israelis sieht, beginnt er mit wüsten Beschimpfungen.“ (deutschlandfunkkultur.de, 23.3.2015) Spätestens die pro-palästinensischen Aufmärsche gegen den Waffengang der israelischen Streitkräfte in Gaza im Jahr 2014 dürften bei ihm die Einsicht befördert haben, dass es in der „Berlinblase“ nicht so friedlich und unpolitisch zugeht wie erhofft. Noch kurz vor der großen Welle der Willkommenskultur für die syrischen Erzfeinde des jüdischen Staates bemerkte Avrahami: „Wenn ich an die Aggressionen gegen Juden während dieser Proteste vor knapp einem Jahr denke – keine drei Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Da mach ich mir schon Sorgen. Das ist wie ein Gewitter, das sich langsam in diese Stadt hinein bewegt. […]. Viele Israelis sind sehr vorsichtig geworden. Ich noch nicht so sehr. Ich spreche mit meinen Kindern hebräisch auf der Straße. Viele Familien machen das inzwischen nicht mehr.“ (ebd.)

Die Politisierung der Clubszene

Davon unbeeindruckt behauptete im gleichen Jahr der aus Israel stammende DJ Marion Cobretti, der „israelisch-iranische Feiernächte“ unter dem Label „NoBeef“ veranstaltet, dass in der Berliner Partyszene für „solche Vorurteile kein Platz“ (welt.de, 29.4.2015) sei. Dabei basiert die viel beschworene Toleranz in der Berliner Clubszene schon immer vor allem auf einer Art Neutralitätsgebot in heiklen politischen Fragen wie dem sogenannten Nahost-Konflikt – was zumindest bewirkte, dass offene Israelfeindschaft bis vor einigen Jahren eher die Ausnahme blieb. Diese behauptete Äquidistanz ist jedoch längst einer eindeutigen Parteinahme für die palästinensische Sache gewichen, die weniger mit der Zuwanderung orientalischer Partypeople im Zusammenhang steht, als vielmehr damit, dass viele Spanier, Griechen, Engländer, Amerikaner, Australier etc., die die deutsche Hauptstadt zu ihrem Sehnsuchtsort auserkoren haben, typisch linke Antizionisten sind, wie man sie aus den einschlägigen Milieus ihrer Herkunftsländer kennt. Sie sind mittlerweile so zahlreich in Berlin, dass man ihnen im Nachtleben der Stadt auf Schritt und Tritt begegnet; sei es als nicht Deutsch sprechender fester Bestandteil der in diesem Sektor Beschäftigten oder unter jenen, die sich als Künstler verstehen. Das bestätigte unlängst der Antisemitismusforscher Jakob Baier, der in subkulturellen Räumen „eine stetige Normalisierung des Antizionismus“ beobachtet, welcher „immer deutlicher antisemitisch grundiert“ (sueddeutsche.de, 24.10.2023) sei. Bestätigt wurde dieser Befund von zwei Besuchern der am 19. November 2023, gut eineinhalb Monate nach dem Hamas-Massaker stattgefundenen Podiumsdiskussion mit anschließender Party im Berliner Club ://about blank. Sie bekundeten, dass sie in keiner anderen Location als dort sichtbare jüdische Symbole tragen oder gar hebräisch sprechen würden, da „die ganze Clubszene israelfeindlich (ist).“ (tagesspiegel.de, 20.11.2023)

Innerhalb der Sparte elektronischer Clubmusik verschärfte sich dieser Trend im September 2018 deutlich, als der britische DJ Ben UFO, der „von vielen als einer der besten DJs überhaupt angesehen wird“ (groove.de, 29.3.2023), via Instagram bekannte, dass er sich von nun an der Kampagne #DJsForPalestine anschließen werde. Diese entstand als eine Erweiterung des einige Monate früher propagierten Konzepts von #ArtistsForPalestine, das sich zum Ziel setzte, „Kulturschaffende im Allgemeinen“ (deutschlandfunkkultur.de, 18.9.2018) zu erreichen. Den #DJsForPalestine ging es vor allem darum, Protagonisten aus dem Bereich der Raveszene zu mobilisieren, um die „Menschenrechtsverletzungen gegen die palästinensische Bevölkerung“ (taz.de, 23.9.2018) anzuprangern. Kritik an der palästinensischen Dauermobilisierung zum Judenhass, die immer auch die Bekämpfung der westlichen Clubkultur und -musik als zionistisch-verjudetes Teufelszeug meint, entfällt dort komplett, wo der Boykott Israels wegen der „brutalen und anhaltenden Unterdrückung des palästinensischen Volkes“ (deutschlandfunkkultur.de, 18.9.2018) handlungsleitend ist. Die Aktion geht zurück auf die Palästinensische Kampagne für den akademischen und kulturellen Boykott Israels (PACBI), die wiederum zu den Mitbegründern der offen antisemitischen BDS-Bewegung gehört. Diese erfährt nicht nur von einzelnen DJs Unterstützung, sondern auch von der „weltweit vernetzten Streamingplattform für Subkultur und Untergrundmusik“, Boiler Room, die seit 2010 DJ-Sets aus einem Londoner Heizkeller im Internet überträgt und deren „Reichweite das Unternehmen auf weit über 200 Millionen Menschen weltweit beziffert.“ (zeit.de, 26.7.2020)

Findet die Pro-Zionisten

Den zunehmenden Einfluss dieser „digitalen Protestbewegung“ (deutschlandfunkkultur.de, 18.9.2018) bekommen Musiker und DJs zu spüren, die in Israel auftreten (wollen) und unter Druck gesetzt werden, was in gleicher Weise für Clubs gilt, die Events mit israelischen Acts planen. (sueddeutsche.de, 24.10.2023) Da BDS und Konsorten auch von Produzenten sowie DJs der Szene unterstützt werden, die ihren Lebensmittelpunkt in Berlin haben (taz.de, 23.9.2018), kann es niemanden überraschen, dass deren Agenda in der weitestgehend internationalisierten deutschen Partyszene auf zunehmende Resonanz stößt. DJs, die nicht propalästinensisch oder womöglich sogar israelsolidarisch sind, vermeiden es deshalb, sich öffentlich dazu zu äußern, da sie widrigenfalls das Ende ihrer Karriere befürchten. (tagesspiegel.de, 20.11.2023) So berichtete es DJ Ori Raz Mitte November dieses Jahres der Taz: Nicht wenige hätten mittlerweile einfach „Angst, ihre Stimme zu erheben, aus einem verständlichen Grund: Für viele ist es ihr Hauptberuf und ihre einzige Einkommensquelle, und sie wollen sie nicht verlieren. Es ist heute leider unvermeidlich, gemobbt zu werden, wenn man Stellung bezieht.“ (taz.de, 18.11.2023) Die Angstmacher nennen sich beispielsweise Berlin Nightlife Workers Against Apartheid und erklären in einem offenen Brief, „dass es an der Zeit, ja längst überfällig ist, klar Haltung zu beziehen gegen das israelische Apartheidsregime und das jahrzehntelange, bis heute andauernde koloniale Projekt der Vertreibung, Abriegelung und ethnischen Säuberung des palästinensischen Volkes. Wir zeigen uns solidarisch mit unseren palästinensischen Geschwistern und erkennen ihr Recht auf Rückkehr, auf Selbstbestimmung und auf Bewegungsfreiheit an.“ Das ist als Kampfansage an diejenigen „in der deutschen Linken“ zu verstehen, die „den Staat Israel unkritisch unterstützen“ und ihren „Einfluss auf die alternativen Räume und kulturellen Institutionen dieser Stadt dazu genutzt (hätten), um abweichende“, sprich die „(progressiven arabischen und jüdischen Stimmen) zum Schweigen zu bringen.“ (17) Dieser behauptete Bann wurde 2019 gebrochen, als unter Federführung von BDS einige Clubs, die sich der Kampagne verweigerten oder gar Veranstaltungen mit Unterstützern von #DJsForPalestine abgesagt hatten, namentlich das Conne Island (Leipzig), der Golden Pudel Club (Hamburg) und das ://about blank (Berlin), mit Boykottaufrufen überzogen wurden, da diese Locations „Israels Regime der Apartheid, des Siedlerkolonialismus und der Besatzung […] fördern“ (Jungle Wold, Nr. 38/2020), mithin sich „an der Unterdrückung der Palästinenser*innen durch Israel (beteiligen)“. Das Ganze mündete in der Aufforderung, „Angebote dieser repressiven, antipalästinensischen Orte abzulehnen und von weiteren Besuchen abzusehen.“ (taz.de, 19.8.2019) Warum ausgerechnet das ://about blank auf einer Liste der BDS-nahen Initiative „Index Palestine“ erschienen ist, die über eintausend Kunstkollektive, Clubs, Museen, Theater und Universitäten weltweit als „prozionistisch“ einstuft, erschließt sich allerdings nicht. (Belltower. News, 14.6.2021, spiegel.de, 27.11.23) Außer der Kritik an der Ausrichtung der BDS-Bewegung, die auch zur Absage der queerfeministischen Veranstaltung Room 4 Resistance führte, was man „heute in einer vergleichbaren Situation so nicht wiederholen“ würde, hat der Laden sich lediglich zu dem Bekenntnis hinreißen lassen, gegen jeden Antisemitismus zu sein. Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, stellt man klar, dass die Location sich nicht im antideutschen Spektrum verortet. Vielmehr verweist das „2010 als Technoclub und Kulturzentrum mit linkem Selbstverständnis in Berlin“ gegründete Kollektiv darauf, „bis heute eine wichtige Plattform (zu sein) und Ressourcen für queer-feministische, antifaschistische und antirassistische Initiativen“ zu bieten. Zwar hätten „Einzelne aus dem ://about blank Kollektiv und in der Belegschaft […] einen antideutschen Background in ihrer Geschichte“, zugleich seien „aber auch viele […] Menschen mit Migrations- bzw. Fluchtgeschichte, Menschen mit Rassismus-, Homo- oder Transphobie-Erfahrungen, Anti-Imps, Bewegungsautonome, Feminist*innen, sogenannte Bauchlinke, Humanist*innen und Menschen, die sich selbst nicht als politisch bezeichnen, aber das Herz am richtigen Fleck haben“ (18), Teil der Crew. Es bestünde keine Einigkeit über die „Beurteilung der israelischen und palästinensischen Politik“ und schon gar nicht darüber, „in welchem Verhältnis die gewaltvollen und militärischen Handlungen der Beteiligten zueinander stehen.“ Diese „unterschiedlichen Standpunkte“ gelte es auszuhalten, „weil wir uns darin einig sind, dass auch ein Technoclub mit politischem Anspruch nicht der Ort sein kann, an dem ein so komplexer und spannungsgeladener Konflikt wie der um Israel und Palästina gelöst wird“. Zudem weiß man, „welche zerstörerische Sprengkraft die Auseinandersetzung um den israelisch-palästinensischen Konflikt in der Szene entwickeln kann.“ Daher „hat der Club von Beginn an vermieden, sich dazu eindeutig zu positionieren.“ Diese demonstrative Verweigerung einer Parteinahme für Israel war bislang nicht nur Voraussetzung dafür, entgegen aller Widersprüche das harmonische Miteinander im Laden selbst zu sichern; sie bestimmt auch das Verhältnis zum Rest der Szene, die sich in der Beteiligung an einer staatsfrommen Aktion wie „AFD wegbassen“ niederschlug, bei der sich mehr als „170 Clubs, Veranstaltungsgruppen, Festivals und Konzertagenturen […] dem Aufruf von Reclaim Club Culture angeschlossen“ hatten, um der „AfD mit einer antifaschistischen Afterhour“ (listen-to-berlin-awards.de) zu begegnen.

Guten Morgen, Palästina

Diverse Wortmeldungen nach dem 7. Oktober belegen, dass die Clublandschaft nicht nur vom Engagement gegen Rechts, sondern ergänzend von einem Konsens in Sachen Palästina-Solidarität zusammengehalten wird, der auch dann nicht zu erschüttern ist, wenn die eigene Szene brutal angegriffen wird. Die These, es habe nach dem Massaker ein „(o)hrenbetäubendes Schweigen“ (taz.de, 9.10.2023) in der Clubszene eingesetzt, erscheint zumindest im internationalen Maßstab als fragwürdig. Die sich selbst, wie man in diesen Kreisen sagt, als queer und trans lesende Juliana Huxtable, die als „gefeierte Multimediakünstlerin und DJ […] zwischen New York und Berlin pendelt und öfter im Berghain auftritt“ (berliner-zeitung.de, 12.10.2023), bezog sich zum Beispiel auf Instagram positiv auf eine Wortmeldung einer „Palästina Kampagne“, deren erklärtes Ziel nach dem Angriff der Hamas darin bestand, „Palästina in Berlin auf die Straße zu bringen.“ (ebd.) Die dänische Techno-DJ Mama Snake, die schon zuvor BDS unterstützte, teilte einen Social-Media-Beitrag, der das Massaker als „Kampf für Leben, Würde und Freiheit“ sowie als Vorschein dessen, „dass andere Welten möglich sind“ (taz.de, 9.10.2023), deutete. Das reichweitenstarke digitale Szeneblatt Resident Advisor startete diverse Aktionen für eine Benefiz-Compilation unter dem Titel „From the river to the sea“. (Jungle World, Nr. 44/2023) Hinzu kommt, dass mehr als viertausend Künstler einen offenen Brief der britischen Kampagne „Artists for Palestine UK“ unterzeichnet haben, darunter auch der bereits erwähnte DJ Ben UFO. (Jungle World, Nr. 44/2023) Zu diesem britischen Aktionismus passt eine Meldung des Szenemagazins GROOVE, wonach über dreihundert Londoner DJs und Musiker sowie überregionale als auch internationale Acts einen offenen Brief unterzeichnet haben, der zu einem Boykott von Locations aufruft, die sich nicht dezidiert mit Palästina solidarisieren. (groove.de, 30.10.2023) Hämische Kommentare unter Beiträgen in den sozialen Medien, in denen den Besuchern des Supernova Bescheid gegeben wird, dass sie es nicht besser verdient hätten, wenn sie in Israel feiern (taz.de, 9.10.23), runden dieses Bild ab.

Im Vergleich dazu waren die Einlassungen in Deutschland auf den ersten Blick vergleichsweise reflektiert. Die von Dr. Motte gegründete „gemeinnützige und nicht profitorientierte Organisation mit Sitz in Berlin“, Rave The Planet, welche „sich dem Spirit und der Kultur der elektronischen Tanzmusik“ verpflichtet sieht, erklärte, dass „(d)ieser Angriff […] nicht nur Israel und die jüdische Gemeinschaft (treffe), sondern […] sich auch gegen die gesamte Familie der elektronischen Musik (richte)“. Zudem handele es sich auch um einen „Angriff auf die Vielfalt und alternative Lebensentwürfe, einschließlich der LGBTQIA+ Community“. Was sich auf den ersten Blick sympathisch anhört, wird im weiteren Verlauf mit der Aussage relativiert, dass man derartige Attacken scharf verurteile, „unabhängig davon, von welcher Seite sie ausgehen mögen und was sie motiviert.“ Man weiß ja, dass „Technokultur […] für Frieden und Miteinander (steht)“ und „(wir) alle ein Teil der Familie der Menschen auf diesem Planeten (sind) – One World, One Family, One Future.“ (ravetheplanet.com, 10.10.2023) In diese Kerbe schlug auch der Kulturkosmos e.V. Müritz. Der zuständige Verein für die Ausrichtung des szeneintern als „Ferienkommunismus“ geltenden Fusion-Festivals schrieb zwar von einem „sinnlosen durch nichts zu rechtfertigenden terroristischen Angriff der Hamas auf Israel“, doch nur um gleich darauf seine „Solidarität mit dem leidenden palästinensischen Volk“ zu bekunden, die aufgrund der „56-jährigen israelischen Besatzung (sowie) der skrupellosen, zum Teil offen rechtsradikalen Regierung Benjamin Netanjahus und der dadurch befeuerten antipalästinensischen Gewalt von radikalen Siedlern“ (groove.de, 6.11.2023) geboten sei.

In der alternativen Szene Berlins konnte man sich noch nicht einmal dazu durchringen, die bedenkenträgerische Ausgewogenheit eines Dr. Motto zu teilen. Das Vorstandsmitglied der Berliner Clubcommission, Lewamm Ghebremariam, konnte dem Terror der Hamas sogar etwas abgewinnen und verlinkte in einem Post auf Instagram den Text eines amerikanisch-kuwaitischen Journalisten, der offenbar ihrer Interpretation des Überfalls entsprach: „Guten Morgen Palästina. Der Widerstand gegen Besatzung und Apartheid ist ein durch internationales Recht und das menschliche Gewissen garantiertes Recht, und der Widerstand gegen die israelische Besatzung ist eine Pflicht.“ (deutschlandfunkkultur.de, 16.10.2023, vgl. Jungle World, Nr. 44/2023) Kurz darauf veröffentlichte die Clubcommission Berlin ein Statement, in dem zumindest die Gewalt verurteilt wird. Auf Anfrage des Journalisten Raphael Smarzoch an den „Lobbyverband der Hauptstadtszene“ (Jungle World, Nr. 44/2023), warum in der Wortmeldung nicht benannt wurde, dass der Angriff der Hamas gezielt auf Jüdinnen und Juden erfolgt und das Motiv also antisemitisch war, teilte diese gegenüber Deutschlandfunk Kultur mit, dass „wir es nicht als unsere Aufgabe (ansehen), das generelle internationale politische Geschehen abseits des clubkulturellen Kontextes zu kommentieren.“ (deutschlandfunkkkultur.de, 16.10.2023) Einzig der auch im Mainstream äußerst populäre Produzent und DJ Sven Väth verurteilte die Attacke auf das Festival in Israel als barbarischen Akt ohne Relativierungsversuch und illustrierte seinen Post mit wehenden Israelfahnen (ebd.), was jedoch zu derart heftigen Kommentaren führte, dass Väth sich nach Angaben seines Büros derzeit nicht mehr zum Thema äußern wolle. (tagesspiegel.de, 20.11.2023)

Szeneverrat

Die erfolgreichen Kampagnen von #DJsForPalestine oder Berlin Nightlife Workers Against Apartheid in der Vergangenheit hätten einem Milieu wie dem des Clubs ://about blank, das sich als Antisemitismus-kritisch versteht, genügend Anlass bieten müssen, der Szene mit der gebotenen Skepsis zu begegnen. Tatsächlich schien es zunächst so, dass die Reaktionen der sich als links, progressiv, antirassistisch usw. verstehenden Partyszene und entsprechender, nicht nur in Berlin ansässiger Protagonisten auf das Massaker beim Supernova-Festival bei den Betreibern des ://about blank das Fass zum Überlaufen gebracht hätte. So konnte man von den Club-Machern kurz nach dem 7. Oktober folgende Zeilen lesen: „fassungslos nehmen wir zur kenntnis, wie einzelpersonen, künstler*innen und gruppen aus der clubszene und der linken diesen antisemitischen terror der hamas als ‚dekolonialismus‘, als ‚palästinensischen freiheitskampf‘ oder als ‚widerstand gegen die israelische unterdrückung‘ deuten, rechtfertigen oder sogar feiern.“ (groove.de, 13.10.2023) Am 19. November veranstaltete der Club ein Podiumsgespräch mit anschließender Soli-Party für die Opfer des Terroranschlages auf die Besucher des Supernova-Festivals unter dem Titel „Moving the Needle“. Bei dieser Gelegenheit sollten Spenden für den israelischen Veranstalter des Tribe of Nova-Festivals sowie die Organisationen OFEK und Beit El-Meem gesammelt werden. (19) Ohne Frage hob sich diese Aktion von der ansonsten vorherrschenden Palästinabesoffenheit in den Partytempeln ab. Man hätte allerdings aufgrund des in der Ankündigung geäußerten Unbehagens über die unsägliche „Tendenz zu Boykotten und Absagen von Auftritten, wenn keine eindeutige Parteinahme für die palästinensische Seite erfolgt oder es sich um israelische Kollektive handelt“, darauf hoffen können, dass neben der karitativen Komponente zugleich ein Bruch mit der Szene, die man noch vor Monatsfrist so treffend charakterisiert hatte, eingeleitet werden sollte. Doch weit gefehlt: Um der Befürchtung den Wind aus den Segeln zu nehmen, man sei in spalterischer Absicht unterwegs, stellte ein Sprecher des Clubs im Vorfeld öffentlich klar, dass lediglich ein mit Dancemusic untermalter Stuhlkreis geplant ist, dessen erklärtes Ziel es sei, „einen offenen Dialog (anzustreben) und (zu) versuchen, keine extreme Haltung zu diesem Thema einzunehmen.“ (groove.de, 17.11.2023) Unter diesen auf friedliche Koexistenz mit den Szeneantisemiten setzenden Vorzeichen erschöpfte sich das ganze Unterfangen in einem Appell an die Club-Antisemiten, bitte zu akzeptieren, dass es sich um „unsere Szene (handelte), die hier angegriffen wurde“ und dass „alle DJs eine Verbindung zu den Geschehnissen (haben), weil sie entweder bereits auf einem Musikfestival aufgetreten sind oder auf einem zu Gast waren.“ (ebd.) Ansonsten treibt das ://about blank trotz des Wissens um den Zustand der Partycrowd nach dem 7. Oktober nur die Sorge um, wie „Jüdinnen und Juden sowie Palästinenser:innen ins Gespräch (kommen)“ könnten. Zur Bekräftigung dieser Appeasementhaltung ließ man am 18. November in seinen Räumlichkeiten einen „Queer Soli Rave“ der externen Veranstaltungsgruppe Supernature für den Palestine Children’s Relief Fund (PCRF) (20) zu. Der Gründer und Präsident von PCRF, Steve Sosebee, sprach nach dem Hamas-Massaker nicht nur einmal von einem „Genozid in Gaza“ und teilte dazu passend auf Twitter ein Video, in dem von „Massakern der zionistischen Besatzung am palästinensischen Volk“ die Rede ist. Zu den Kooperationspartnern des PCRF zählt die von den Vereinigten Arabischen Emiraten und Israel als terroristisch eingeschätzte Hilfsorganisation Islamic Relief Palestine, die nach israelischen Angaben „Teil des globalen Finanzierungsapparates der Hamas“ ist und die laut Bundeszentrale für politische Bildung „deutliche personelle und ideologische Verflechtungen zur Muslimbruderschaft“ aufweist. (welt.de, 24.11.2023)

Der israelische Clubszenen nützte es nach dem 7. Oktober wenig, dass sie sich Kennern zufolge „größtenteils gegen die derzeitige israelische Regierung“ positioniert und „auch an den Protesten gegen die Justizreform teilgenommen“ (Jungle World, Nr. 44/2023) hat. Die Veranstalter des Supernova-Festivals kamen zu Einschätzungen, die im Vergleich zum Rest der elektronischen Musikwelt trotz einiger esoterisch anmutender Formulierungen von bestechender Klarheit sind und schon deshalb eine weitgehende Entzweiung und Isolierung von der Mehrheit des globalen Szenerests zur Folge haben mussten. In ihren Augen war das Massaker der „Inbegriff des reinen und ungezügelten Bösen, der entsetzliche und sinnlose Mord an unzähligen unschuldigen Engeln, deren einziges ‚Verbrechen‘ darin bestand, Juden zu sein und in Israel zu leben.“ Neben der unmittelbaren Unterstützung für die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer sei es deshalb „wichtig, folgende Botschaft zu vermitteln: Unsere Stärke liegt in unserer Einigkeit! Wir befinden uns in einem Krieg um unsere Heimat“, daher werde man alles „für die Sicherheit Israels“ (rollingstone.de, 16.10.2023) tun. Von der Bewunderung, die beispielsweise den israelischen Goa- und Psytrancepartys in der Vergangenheit zuteilwurde, und der Beteuerung, alle Protagonisten „technologisch-fortschrittliche(r) Musik“ (21) weltweit seien Teil einer „One Family“, ist nicht viel geblieben. Die israelische Club- und Musikszene sieht sich plötzlich mit einer gegen sie gerichteten Wirklichkeit konfrontiert, die sie wegen ihrer hippieesken Denkungsart trotz hässlicher Feindseligkeiten in der Vergangenheit wohl nie für möglich gehalten hat. Der mittlerweile in Berlin lebende DJ und Labelbetreiber Ori Raz stellte resigniert fest, dass der „Mangel an Solidarität und Empathie für israelisches und jüdisches Leben […] eine große Enttäuschung für viele in der Szene“ sei. Noch treffender formulierte es der Promoter Guy Dreifuss: „Wir fühlen uns verraten von einer Szene, der wir uns bis neulich zugehörig fühlten.“ (Jungle World, Nr. 44/2023)

Mario Möller (Bahamas 93 / 2024)

Anmerkungen:

  1. Alle nicht anderweitig ausgewiesenen Zitate in diesem Abschnitt beziehen sich auf das Stichwort Goa bei laut.de, vgl. auch den Wikipedia-Eintrag zu Psytrance
  2. vgl. Wikipedia-Eintrag „Hippie“ und Marion Frank: Hippie-Bewegung: Alles Wissenswerte zur Jugendrebellion der Hippies. (focus.de, 14.5.2019)
  3. Stichwort Goa bei laut.de
  4. siehe Anm. 3
  5. Auszug aus Tom Rom und Pascal Querner (Hrsg.): GOA – 20 Jahre Psychedelic Trance, Solothurn 2010, zit. nach www.sterneck.net
  6. BLiSS: Psytrance scene in Israel, 1.5.2013. mushroom-magazine.com
  7. Stichwort Goa. laut.de
  8. DJ DARWISH (Pardes Hana): Psytrance in Israel: Powerful, Crazy Vibe & True to the Source Psy-Experience, 10.6.2015, mushroom-magazine.com
  9. siehe Anm. 6
  10. siehe Anm. 8
  11. Jonas Kersten alias Goa Jonas: India – Goa! The Cradle of Psychedelic Trance Music, 11.7.2016, mushroom-magazine.com
  12. siehe Anm. 3
  13. Yoav Sapir: Berlin, Berlin! Junge Israelis und die deutsche Hauptstadt, 30.1.2015, bpb.de
  14. ebd.
  15. ebd.
  16. ebd.
  17. Open Letter – Berlin Nightlife Workers Against Apartheid. Der Link hierzu findet sich bei http://aboutblank.li/faq/
  18. Alle weiteren nicht anderweitig gekennzeichneten Zitate: http://aboutblank.li/faq/
  19. OFEK ist eine „auf Antisemitismus und Community-basierte Beratung spezialisierte Stelle in Deutschland. Beit El-Meem dient als Zufluchtsort für alle Geschlechter und sexuellen Identitäten in der arabischen Gesellschaft Israels und setzt sich für die arabische LGBTQ-Gemeinschaft ein.“ (groove.de, 17.11.2023)
  20. Die Organisation wurden 1991 in den USA gegründet und bietet kostenlose medizinische Versorgung für Kinder an.
  21. Wikipedia-Eintrag „Techno“

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