Titelbild des Hefts Nummer 92
AUSWEITUNG DER KAMPFZONE
Heft 92 / Herbst 2023
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Vom Zeitkern der Lüge

Russische Märchen und historische Wahrheit

Seit der Westen dank Corona nun endgültig, diesmal aber wirklich letztgültig, ohne jede Wiederkehr, abgedankt habe, fällt Leuten, die schon seit über zwanzig Jahren den Westen bei jeder Gelegenheit haben abdanken sehen und die gar nicht so heimlich hoffen, dass der Verfall die Dimension des wenigstens europäischen Bürgerkriegs annimmt, zu Ereignissen, die nach der Pandemie eingetreten sind, zum Beispiel zum Krieg gegen die Ukraine, gar nichts mehr ein. Und wenn doch, dann ist es russi­fizierte Propaganda, so wie der Umgang mit dem Schnupfen in Russland für echte Männer als vorbildlich gelten muss. Weil nun das Exempel der Außerkraftsetzung von Bürgerrechten statuiert ist, sei das Ende der Pandemie keine Rückkehr zum vorherigen Zustand, sondern lediglich eine vorübergehende Aufhebung des Ausnahmezustands, der jederzeit wieder in Kraft gesetzt werden könne. Allerdings ist es nicht falsch, anzunehmen, dass sich die bürgerliche Normalität aus dem Ausnahmezustand speist, die sein ständiges, wenn auch negatives Vorbild ist: Diese Annahme ist jedoch so allgemein aus dem Wesen bürgerlicher Herrschaft abgeleitet, dass sie sich jeweils am Zeitkern zu beweisen hat und nicht an der theoretischen Prämisse, die sich in dem Moment als ideologisch erweist, in dem das Prognostizierte nicht eintritt. Das würde sich von selbst verstehen, wenn man, was man predigte, selbst glauben würde: dass die Geschichte des Zerfallsprozesses bürgerlicher Gesellschaften bzw. des Westens eine chaotische, widersprüchliche Abfolge von Krisen ist, in der die Regierungen, gleich welcher politischen Richtung sie zugehörig sind, das sozialdemokratische Primat des Sachzwangs ein ums andere Mal zelebrieren; und dass in diesem Prozess jener Lack, der den notwendigen Schein gesellschaftlich ermöglichter Individualität repräsentiert, zunehmend abgeblättert ist und man sich gar nicht mehr vorstellen kann, wie der demokratische Kaiser noch nackter ­dastehen kann als in der vorherigen Krise. Aber man glaubt es nicht, sondern hält daran fest, dass der Gang der Geschichte einem Prinzip folgt, einem, das schon vor dem zweiten Weltkrieg zur Diskussion stand.

Jede Eruption der Unzufriedenheit, und sei sie noch so reaktionär, muss, wie zuletzt in Frankreich, umgelogen werden in einen Vorschein des kommenden Aufstands. Die Geschichtsteleologie des Histomat darf um keinen Preis aufgegeben werden, denn das würde die eigene Identität als Kommunist oder Ideologiekritiker in Frage stellen. Dabei verhält es sich mit dieser Spielart der Identitätspolitik genauso wie mit der Transgender-Frage, denn es geht um die selbstbestimmte Identität der Namen, Bezeichnungen und Pronomen: keinesfalls um einen Inhalt, um den es sich zu streiten lohnte. Dass gerade bei jenen, die besonders laut vor den „Ukro-Nazis“ warnen, eine an Putin selbst gemahnende Verachtung für die individuelle Not geschlechtlich verunsicherter Personen und ihrer ideologischen Zuflucht, der queer theory, festzustellen ist, lässt den Verdacht aufkommen, dass die Verachtung für den Freiheitskampf der Ukraine denselben Motiven entspringt. Ebenso wie russische Propagandisten frohlockt man angesichts der Gewaltexzesse in Frankreich, unfähig zu verstehen, dass es sich keineswegs um spontane Wutausbrüche, sondern um eine kläglich gescheiterte Inszenierung der Islamo-Linken gehandelt hat, weil man denn doch Kriterien haben müsste, die über Gefühl und Härte hinausgehen; stattdessen schaut man sich zum x-ten Mal La Haîne an, jenen sozialromantischen Kitschfilm aus den 1990er Jahren, der schon damals eine Lüge war. Man ist wütend darüber, dass der Westen trotz alledem noch eine Strahlkraft hat, die über das Beleidigtsein ob der eigenen Unfähigkeit hinausgeht und andere darauf verfallen lässt, die noch vorhandenen individuellen Möglichkeiten dieser Gesellschaften zu nutzen, statt praktisch, häufiger aber „theo­retisch“ Hass und Neid zum allein zulässigen Movens von Einmischung zu erklären. Aus eigener Kraft, es mit dem, was sie „das System“ nennen, aufzunehmen, trauen sie sich nicht, daher die Identifikation mit dem russischen Aggressor und dem abgehängten Vorstadt-Randalierer, also mit den Verlierern, die sich als Sieger der Geschichte fühlen. Glaubte man an einen Gang der Dinge, dem irgendein Sinn innewohnt, so hätte man diesen Sieg als umfassende Zerstörung zu gewahren – und zu fürchten; dass man diese Furcht individuell nicht mehr wahrhaben will oder kann, bezeugt, dass man zwischen dem realen Westen und dem viel Schlimmeren, das allen droht, ein weiteres Mal nicht mehr unterscheiden will.

Die postideologisch-prätotalitäre Weltsicht

Die Rasanz, mit der gesellschaftliche Veränderungen stattfinden, als ein Krisensymptom zu begreifen, ist das eine – am Spielfeldrand zu stehen und „Wir haben es immer besser gewusst“ zu rufen, das andere. Die derzeit propagierte postideologisch-prätotalitäre Weltsicht, die verhindern soll, dass überhaupt noch irgend­welche Kriterien jenseits des Unmittelbaren gelten könnten, verkleidet Indifferenz in tönernen Begriff. Postideologisch umschreibt er die diesen Ideologiekritikern offenbar völlig neue Entdeckung der Sachzwangpolitik; prätotalitär hingegen eine Furcht vor der Formierung einer Gesellschaft unter staatlichem Diktat – auch etwas völlig Neues, das noch nie zuvor gewesen war. (1) Allerdings ist der Sinn der Sache ein anderer; die Funktion, olle Kamellen für neue zu verkaufen, besteht in der Abschaffung des zu bekämpfenden Jenseitigen, des außerhalb aller Diskussion Stehenden. Stattdessen ist nun alles gleichermaßen schrecklich – Mundschutz wie Krieg – und schon verliert jede Differenz, die zugleich immer Vermittlung ist, an Bedeutung. Die Solidarität mit Putin, die zu Beginn des Versuchs der vollständigen Invasion der Ukraine angeklungen ist, ist recht plötzlich in die altbekannte Logik, nach der Kapitalismus Krieg sei und deswegen immer Krieg herrsche, umgekippt. Die Camouflierung der eigenen Bewunderung für Putins starke Männer durch eine Antikriegs-Haltung, die schon 1914 falsch war, als man in revolutionärer Absicht das britische Empire und die französische Republik mit dem Deutschen Reich und der Habsburger Monarchie auf eine zivilisatorische Stufe gestellt hatte, musste erfolgen, weil man bemerkt hat, dass der Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine eben nicht den unterstellten Charakter des normalen kapitalistischen Krieges hat, sondern ein kolonialer Vernichtungskrieg ist. Das ist allzu verwirrend, deswegen erklärt man selbstbewusst pampig, wie jeder AfD-Wähler auch, dass „dieser Krieg nicht unser Krieg“ sei, statt mit der Ukraine auf eine Weise solidarisch zu sein, wie es die politischen Führer des geschmähten Westens aufgrund ihrer politischen Einschüchterung durch Putin nicht können oder wollen. Überraschend ist das aber nicht, schließlich hat das entsprechende Personal zu Israel und zum Antisemitismus seit langem nichts mehr beizutragen. Die Regression auf einen Zustand der Ideologiekritik von 1913, etwa Rosa Luxemburgs Imperialismus-Theorie, verhilft, unter den Vorzeichen der pandemischen „Faschisierung“, vor allem dazu, nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, was zwischen 1913 und 2023 geschehen ist. Nicht erst seit 1914, aber spätestens seither, ist die Geschichte der Welt eine der aufein­ander folgenden Katastrophen, die man besser ignoriert, um die Maskenpflicht zum Kennzeichen endgültiger Unterdrückung erklären zu können und zugleich, um die stattfindende Kata­strophe in der Ukraine zu verniedlichen. Der Geschichtsbruch wird nicht mehr durch Auschwitz, sondern die Corona-Maßnahmen repräsentiert, und deswegen braucht man auch über nichts anderes mehr zu sprechen: man selbst ist zum Juden geworden, zum Objekt der Aussonderung und Unterdrückung. Walsers „Unser Auschwitz“ ist die Pandemie: Die Vereinigung der Verfolgten des Covid-Regimes, als die sie nun durch das Netz paradiert, projiziert sich in ein Post-1945, als seien sie die KZ-Überlebenden, die mit gebrochener Stimme das „Nie wieder“ gegen den Willen zu Aufbau und Vergessen beschwören müssen.

Was diese Ideologiekritiker zusammen mit vielen linken, rechten und anderen europäischen Verehrern des russischen Imperialismus an der Ukraine wirklich stört, hat weder mit ihrer unvergleichlich blutigen Geschichte noch mit dem Ethno­nationalismus der Bandera-Faschisten, weder mit der weitverbreiteten Korruption noch mit den Oligarchen zu tun, sondern mit dem Gegenteil: dass es offenbar mittlerweile in der Ukraine eine Mehrheit gibt, die das Spektakel der Bandenherrschaft unter einem Führer wie Putin und die mit ihr einhergehende Eliminierung noch der letzten rechtsstaatlichen Relikte nicht will, sondern sich davor fürchtet und dies mit allen Mitteln bekämpft. Dass die Ukraine wegen ihrer angeblichen Nazi-Affinität und Korruption kein Existenzrecht habe, ist ja nicht nur deswegen Unsinn, weil es viele Staaten jenseits der Ukraine gibt – viele sind von Islamisten beherrscht –, in denen Nazi-Affinität und Korruption aufgrund der dort herrschenden Mehrheitsverhältnisse unvergleichlich stabiler sind. Die Wirklichkeit regionaler Bandenherrschaft, wie sie scheinbar ganz postideologisch schon seit Jahrzehnten auf dem afrikanischen Kontinent in vielen Staaten besteht, die außer ihren Grenzen und ihren Herrschern nicht mehr viel haben, was sie als Staaten oder gar Republiken auszeichnen könnte, gehört ebenso wie die Zerfallserscheinungen in westlichen Staaten, wie zuletzt in Frankreich, zur allgemeinen Krise des Kapitals – allein, diese Erkenntnis ist in ihrer Abstraktion nutzlos; es geht vielmehr um die Beantwortung der Frage, ob man dieses Schreckensbild als Chance begreift, in der die Selbstzerstörung des Westens die Option für den Verein freier Menschen öffnet, oder als endgültige Absage an die Bedingung jeder Chance. Der Verteidigungskampf der Ukraine hat so gesehen einiges zu tun mit den iranischen Frauen, die um ein „bisschen Wind im Haar“ (Taz, 11.8.2022) kämpfen, oder mit den Bemühungen afrikanischer Staaten, so korrupt sie auch sein mögen (2), die Zerstörung ihrer Reststrukturen durch Wagner-Söldner, Islamisten und andere Banden zu verhindern, oder auch mit denen von Bürgermeistern, Feuer­wehrleuten und Polizisten in französischen Kleinstädten, die vom Zentralstaat allein gelassen wurden, als der Mob durch die Straßen zog.

Die Homos und das Asow-Regiment

Kurz nach dem Beginn der vollständigen Invasion der Ukraine durch die Russische Förderation (RF) am 24. Februar 2022, erreichte Ukrainepride – ein Bündnis sexueller Minderheiten, das sich 2021 gebildet hatte, um Gesetzesreformen in der Ukraine zu erkämpfen – eine Anfrage des Asow-Regiments. Ukrainepride hatte begonnen, Spenden zu sammeln, und sich aufgrund des Erfolges der Aktion entschlossen, nicht allein Angehörige sexueller Minderheiten zu unterstützen, die sich dem russischen Überfall entgegengestellt hatten, sondern alle Einheiten der Territorialverteidigung ebenso wie alte Leute und Migranten. Julia Fedosiuk, eine führende Mitarbeiterin des Asow-Regiments (das zu diesem Zeitpunkt schon längst dem Innenministerium als Teil der Nationalgarde unterstellt war), bat um Geld für die Kommunikationsin­frastruktur. Sie schrieb aber auch, dass sie verstehen könne, wenn Ukrainepride ihr Anliegen ablehnen würde. Schon zuvor hatte es Kontakt zwischen den Pride-Organisatoren und Asow gegeben, der Ehemann von Fedosiuk, Arseniy, einer der Asow-Kommandeure, und Sofia Lipana von Ukrainepride hatten sich über politische Fragen ausgetauscht. Arseniy Fedosiuk kämpfte unterdessen in Mariupol, wo die Asow-Kämpfer zum Inbegriff des ukrainischen Widerstandswillens werden sollten. „Wir lehnten nicht ab. Wir hatten niemals direkte Konflikte mit Vertretern des Regiments“, sagte Lipana der Vogue Ukraine im April 2022 (3). „In den vergangenen Jahren gehörte Asow nicht zu denen, die LGBTQ-Leute angegriffen haben. Das wurde vor allem von RF-gesponserten radikalen Gruppen getan, um die pro-russische Propaganda vom sogenannten ‚ukrainischen Neo-Nazismus‘ zu belegen.“ Tatsächlich hat es nach 2014 verstärkt Angriffe auf Veranstaltungen von Pride-Bündnissen in verschiedenen Städten der Ukraine gegeben, auf denen Gegendemonstranten mit Nazi- und Asow-Symbolen gesehen wurden; direkte Aufrufe des Bataillons bzw. später des Regiments hat es aber nicht gegeben. Julia Fedosiuk bestätigte in Vogue Lipanas Sichtweise: „Wir haben mit Sofia lange vor der vollständigen Invasion kommuniziert, wir haben uns über die problematischen Aspekte subkultureller Ideologien von links und rechts ausgetauscht. Unsere Sichtweisen unterscheiden sich signifikant, aber das hat uns nicht am Austausch gehindert. Jetzt müssen alle Differenzen zurückstehen, weil wir von einem Feind angegriffen werden, gegen den wir uns gemeinsam verteidigen müssen. Ich bin dankbar für die finanzielle Unterstützung durch die Organisation, eben weil der Ruf des Regiments, wie er über die Jahre von der russischen Propaganda in den westlichen Medien aufgebaut wurde, um es milde auszudrücken, unwahr ist.“

Der Krieg, den die RF gegen die Ukraine führt, begann 2014, als russische Truppen ohne Kennzeichnung in den Donbass eindrangen und mithilfe einheimischer Kollaborateure versuchten, die östlichen Bezirke von der Ukraine abzuspalten. Obwohl die „militärische Spezialoperation“ – die hieß damals auch schon so –, in deren Folge im März 2014 die Krim von der RF annektiert wurde, erfolgreich verlief, gelang der „Befreiung“ genannte Einmarsch nur in Teilen von Luhansk und Donezk. Aus Mariupol und anderen Städten wurden die Russen wieder vertrieben. Schon damals hätte den heutigen Freunden der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine auffallen können, dass selbst zu diesem Zeitpunkt die meisten russischsprachigen Gebiete keineswegs „befreit“ werden wollten. Weit davon entfernt, den gesamten Donbass einnehmen und die projektierte Marionettenrepublik „Neurussland“ zu gründen, setzten sich die Kämpfe, trotz mehrerer Waffenstillstandsabkommen unter internationaler Vermittlung, mehr als acht Jahre bis zur vollständigen Invasion fort. Die RF trat dabei immer als unbeteiligte dritte Partei und als Vermittler zwischen den vor allem entlang der Sprache getrennten Gruppen in Erscheinung, und der Westen glaubte bereitwillig das Märchen vom Bürgerkrieg zwischen russisch- und ukrainischsprachigen Ukrainern, in dem sich die Russischsprachigen nur gegen das drohende Verbot ihrer Sprache und ukrainisch-nationalistische Bevormundung zur Wehr setzten.

Der Westen, allen voran Deutschland und die USA, wollte den bewaffneten Konflikt als regionalen Konflikt verstehen und erkannte mit den Minsker Abmachungen den russischen Wunsch nach sprachlich definierten imperialen Einflusssphären an. Die Ukraine betrachtete die RF hingegen als Kriegspartei und sah ein weiteres Mal ihre Unabhängigkeit und staatliche Souveränität bedroht. In den zwei Jahrzehnten seit dem Ende der Sowjetunion bestimmte zwischen 1991 und 2014 das Austarieren der Position der unabhängigen Ukraine zwischen dem Westen und der RF die innenpolitische Debatte, die mit dem russischen Einmarsch auf der Krim und im Donbass beendet wurde. Schon der erste Präsident der unabhängigen Ukraine, Leonid Krawtschuk, ein Apparatschik, der 1934 im damals polnischen Westen der Ukraine geboren wurde, konnte sich mit der nationalistischen Opposition an einem Punkt verbünden: Die Ukraine sollte eine unabhängige Republik aller ihrer Bewohner sein, kein ethnozentristischer Staat. Krawtschuk, der vor allem in die Geschichte eingegangen ist, weil er seine Wahlniederlage 1994 anerkannte und damit demokratische Regierungswechsel ermöglichte, sagte 1992: „Wir sind ein friedliches Land und wünschen gleichberechtigte Beziehungen. Doch viele Vertreter Russlands betrachten uns aus Gewohnheit als ihren Gutsbesitz. Das muss sich ändern.“ (Spiegel, 3.2.1992) Er sagte das auf Russisch. Die Hoffnung auf ein Auskommen mit Russland starb wirklich zuletzt: Die Ukrainer wählten mal nationalistisch, mal prorussisch, und wenn sie es gar nicht mehr aushielten, demonstrierten und streikten sie so lange, bis es wieder Wahlen gab. Aber alles half nichts, nicht einmal der prorussische Präsident Janukowitsch, der 2014 aus dem Amt vertrieben wurde. Dass die RF die Ukraine der russki mir – der russischen Welt – unter allen Umständen (wieder)eingliedern wollte, erzwang den Austausch und die Auseinandersetzung zwischen so unterschiedlichen Kräften wie den Pride-Gruppen, Asow und vielen anderen Gruppierungen in der Frage, ob und wenn ja, was für eine Nation die Ukraine sein will. Während im Westen noch die Sichtweise dominierte, dass die prorussische Fraktion den Sieg davontragen würde, eine Sichtweise, die die Ukraine vielleicht als Staat, aber nicht als Nation wahrnimmt, hatte in der Ukraine längst etwas ganz anderes stattgefunden.

Russki mir – die russische Welt

Wie schön war es in den 1980er Jahren, als mir ausschließlich mit Frieden übersetzt wurde und man ignorieren konnte, dass die Sowjetunion lediglich eine für das 20. Jahrhundert aktualisierte und brutalisierte Fassade des russischen Imperialismus war. Russki mir aber bedeutet beides und wurde in den Ländern, die an Russland grenzen, immer als Drohung verstanden. Die aktuelle Version des russischen Imperialismus, die Russische Föderation, ist nichts anderes als ein koloniales Gebilde mit Russland als Zentrum. In den russischen Metropolen spielt der Krieg gegen die Ukraine auch deswegen bislang nur eine untergeordnete Rolle, weil das Kanonenfutter aus den kolonisierten Gebieten kommt, die seit Jahrhunderten Arbeitskräfte und Rohstoffe zu liefern haben. Zu diesen Gebieten gehörte auch die Ukraine, und die russische Führung ließ nach der Unabhängigkeit 1991 nichts unversucht, die wirtschaftliche und politische Hegemonie zu bewahren, zunächst erfolgreich. Ende 2013 setzte die damalige ukrainische Regierung ein Assoziierungsabkommen mit der EU überraschend aus, was zu Massenprotesten führte. Beim „Euromaidan“ ging es jedoch weniger um die Annäherung an Europa als um die Wut darüber, dass die ukrainische Regierung sich von Putin hatte unter Druck setzen lassen, der offen damit drohte, die Krim und den Donbass zu annektieren. War die ukrainische Gesellschaft zuvor noch zu gleichen Teilen gespalten zwischen prorussischen und proeuropäischen Kräften – wobei die Mehrheit der prorussischen Kräfte keineswegs auf die Unabhängigkeit der Ukraine verzichten wollte –, veränderte sich dieses Kräfteverhältnis Anfang 2014 rapide, als immer deutlicher wurde, dass die Regierung unter dem damaligen Präsidenten Janukowitsch Befehlsempfängerin Russlands war. Die Motive der damaligen Demonstranten waren sehr unterschiedlich, wie die heutige Leiterin des Ukrainischen Instituts in London, Sasha Dovzhyk, deren Muttersprache Russisch ist, berichtet: „Ungeachtet meiner Liebe zu den russischen Dichtern oder meinen russischen Freunden, empörte mich die Aussicht, dass die Ukraine in die Fußstapfen des von Homophobie und Rassismus durchdrungenen russischen Polizeistaats treten würde. Es war erst ein Jahr her, seit Moskau das Eintreten für die Rechte von Homosexuellen verboten hat. Deshalb habe ich mich den proeuropäischen Protesten auf dem Maidan angeschlossen. Im Gegensatz zu den meisten Ukrainern, die sich öffentlich an diese Tage als eine Zeit der Einheit erinnern, fühlte ich mich bei dem Protest fehl am Platz: Ich bezog mich auf die proeuropäischen Parolen, nicht aber auf das bevorstehende Fest der ukrainischen natio­nalen Wiederbelebung. Die Überschneidung von ‚national‘ und ‚nationalistisch‘ war in meinem Gedächtnis durch meine postsowjetische Erziehung immer noch unklar. Die Erkenntnis, dass Nationalismus eher bürgerlicher als ethnischer Natur sein könnte, stand noch aus. Meine Unterstützung für den Protest schwankte in den ersten Wochen, bis das friedliche Protestcamp von der Bereitschaftspolizei brutal aufgelöst wurde […] Am 1. Dezember 2013 machten die Ukrainer [mit einer Massendemonstration nach dem Überfall auf das Camp auf dem Maidan] deutlich, dass sie keinerlei Form autoritärer Herrschaft akzeptieren würden. Diese Entscheidung definierte die Nation und dieser Nation entschied ich mich anzugehören.“ (4) Putin war mit der überheblichen Kolonialherrenattitüde zu weit gegangen. Als Janukowitsch am 21. Februar 2014 aus Kiew nach Moskau floh, begannen die Auseinandersetzungen um die Unabhängigkeit der Ukraine, die im Westen größtenteils durch die Brille der russischen Propaganda betrachtet wurden.

Die Schreckensherrschaft mafiöser Banden in den „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk, die mit der Zerstörung der Infrastruktur und der Flucht eines Großteils der Bevölkerung einherging, wurde nicht nur ignoriert, die Schuld dafür wurde der Ukraine in die Schuhe geschoben. Tatsächlich war es der RF 2014 nicht gelungen, ausreichend ukrainische Bürger zu finden, die sich von der Ukraine lossagen und heim zu Mütterchen Russland wollten, deswegen schickte man FSB-Einheiten, die die staatlichen Strukturen zerstörten, weil sie nicht in der Lage waren, diese zu übernehmen oder neue zu errichten. Die Folge war eine bis heute anhaltende Willkürherrschaft, gegen die sich Syrien und Tschetschenien beinahe wie Rechtsstaaten ausnehmen. Der Widerstand gegen diese feindliche Übernahme hätte erfolgreich sein können, hätte der Westen die Ukraine nicht zu den erpresse­rischen Minsk-Abkommen genötigt, die Putin und seine Auftragsmörder zu Partnern auf Augenhöhe erklärten. Putin hat erfolgreich den Eindruck erweckt, dass nur eine Ukraine unter russischem Diktat eine Einhegung der ukrainischen Gefahr zustande brächte. Während aber die aggressiv-nationalistischen und faschistischen Gruppierungen in der Ukraine nach 2014 zunehmend schwächer wurden, erlahmten die russischen Propagandisten und ihre westlichen Nachplapperer, zu denen eben nicht nur die Junge Welt gehörte, sondern auch die liberale Presse, keineswegs. Jeder noch so kleine Vorfall wurde aufgebauscht, um sich den eigenen Antifaschismus zu beweisen. Die Ukrainer seien eines der deutschen Hilfsvölker gewesen, Juden und Minderheiten würden verfolgt, und – im Gegensatz zur RF, in der Putin mit ihnen aufgeräumt habe – beherrschten Oligarchen das durch und durch korrupte Land. Die Slawen, zumal die ukrainischen Bauern, so der rassistische Unterton, bedürften eben einer harten Hand. Die Frustration über diesen Verrat des Westens hätte in einen aggressiven Nationalismus führen können – die westliche Berichterstattung jener Jahre liest sich entsprechend, als wollte man einen ukrainischen Faschismus herbeischreiben. Dass die „Ukro-Nazis“ aber nicht nur nicht stärker, sondern stattdessen an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt wurden, ist Ausdruck einer ukrainischen Wiedergeburt – so widersprüchlich dies auch zunächst klingen mag. Nicht nur, dass Kiew zur europäischen Partymetropole reüssierte und die Ukraine zum Einwanderungsland wurde, weil die vergleichsweise liberale Gesellschaft viele junge Leute aus den autoritär regierten Nachbarstaaten anzog; nicht nur, dass die Ukraine begann, die Wirtschaft und Infrastruktur zu modernisieren und den Rechtsstaat zu kodifizieren: Es gab heftige Auseinandersetzungen über den Umgang mit der eigenen Geschichte, die zum einen vor allem seit 1945 in der Sowjetunion unsichtbar gemacht worden war und zum anderen im Exil weitgehend von den Ethnonationalisten (die keineswegs ausschließlich Bandera-Leute waren und sind) usurpiert wurde.

Im Verhältnis zu Russland und Europa gewann die Idee der Neutralität an Boden, weil man hoffte, davon zu profitieren und mit beiden Seiten ein Auskommen zu finden. Dafür wurde Wolodymir Selenskyj 2019 zum Präsidenten gewählt. Er personifizierte den Generationenwechsel nicht nur in der politischen Klasse und die Einheit der Ukraine als Nation: als russischsprachiger Jude aus der Industriestadt Krywyj Rih. In einer Rede zum 30. Jahrestag der Unabhängigkeit benannte er 2021 erstmals alle ethnischen Gruppen der Ukraine: „Heute möchte ich zum ersten Mal in der Geschichte diejenigen benennen, die in der Ukraine leben, damit wir endlich verstehen, dass das ukrainische Volk Ukrainer, Krimtataren, Karäer, Krim­tschaken, Russen, Belarussen, Moldauer, Bulgaren, Ungarn, Rumänen, Polen, Juden, Armenier, Griechen, Roma, Georgier, Gagausen, Aserbaidschaner, Usbeken, Kasachen, Kirgisen, Turkmenen, Tadschiken, Litauer, Esten, Letten, Türken, Koreaner, Baschkiren, Lesginen, Awaren, Mari, Deutsche, Slowaken, Tschechen, Finnen, Komi, Albaner, Karelier, Tschetschenen, Osseten, Abchasen, Kabardiner, Tabasaren, Darginen, Araber und Lakten sind. Und wir sind alle Bürger der Ukraine.“ (5) Die Überraschung über Selenskyjs Erdrutschsieg hätte größer nicht sein können, widersprach er doch den gängigen Bildern von der Ukraine als faschistoidem Gebilde, das schon am Aufbau staatlicher Strukturen gescheitert sei, obwohl sie das einzige Land der ehemaligen Sowjetunion (mit Ausnahme des Sonderfalls der baltischen Staaten) ist, in dem es so etwas wie demokratische Normalität gibt. Tatsächlich ist die Ukraine nicht trotz, sondern wegen der oftmals chaotischen Entwicklung nach 1991 ein Beispiel für die Möglichkeit, der eurasischen Untertanenmentalität zu entkommen. Entgegen allen Legenden, die nach dem Februar 2022 in die Welt gesetzt wurden, war die Selenskyj-Administration auf Ausgleich bedacht und stimmte, trotz großer Kritik in der Öffentlichkeit, dem Diktat der Minsker Abkommen zu. Tatsächlich schien Selenskyj vom Überfall auf sein Land überrascht worden zu sein, er hielt Putins Drohungen für Säbelgerassel.

Selenskyj und „Kleinrussland“

Die Verhandlungen darüber, was die ukrainische Nation sein soll, waren in den Jahren zwischen 2014 und 2022 weitgehend unbemerkt von der westlichen Öffentlichkeit zu einem Integrationsprozess sehr widersprüchlicher und gegensätzlicher Segmente der ukrainischen Gesellschaft geworden, die in der Lage war, dem Überfall vom 24. Februar 2022 militärisch und politisch zu begegnen. Der Kollaps der ukrainischen Armee hätte 2014 fast das Ende der Ukraine bedeutet, und es waren Milizen wie das Asow-Bataillon, die die ukrainische Souveränität verteidigten; nach 2014 wurden diese Milizen in die Landesverteidigung integriert, was für die Führer des nunmehrigen Regiments mit der Anerkennung der Verfassung der Ukraine einherging. Das befreiende Verbot der Kommunistischen Partei der Ukraine 2015, einer russischen Agentur, ermutigte viele Linke zu einer Neubestimmung ihres Verhältnisses zum „Kommunismus“ und zur Nation. (Erst kürzlich demonstrierten einige ukrainische Linke vor der Redaktion der Jungen Welt in Berlin gegen die fortgesetzte Denunziation der Beteiligung dieser nach 2015 neu entstandenen Gruppen am Kampf gegen die RF.) Die Ukraine hat in den Jahren seit der Unabhängigkeit viel von ihrer sowjetischen Prägung verloren, die Ereignisse von 2014 machten ein Füllen der entstandenen Leere notwendig, das sich vor allem in der Abgrenzung von allem ausdrückt, was mit Russland identifiziert wird. Die Fassungslosigkeit darüber, dass die Ukraine nicht nach wenigen Tagen kapitulieren musste, wie von Putin und der Mehrheit der westlichen Staaten erhofft, hat ihren Grund darin, dass der Prozess der Nationenbildung weitgehend unbemerkt vonstatten gegangen war. Diese Ignoranz, die in der deutschsprachigen Welt bis heute anhält – in der angelsächsischen und frankophonen hat sich mehr verändert –, hat mit der Übernahme von historischen Erzählungen zu tun: Erzählungen nicht im postmodernen Sinn, sondern russischen Märchen, die man zumal in Deutschland gern glauben wollte.

Da war die Ukraine dann im Sinne Gogols „Kleinrussland“, das ohne das große Russland nicht überleben könne; die ukrainische Sprache im Sinne Gorkis ein Dialekt des Russischen; und mit Tschechow die Ukraine die schöne, aber rückständige Provinz, das Zentrum der Welt aber Moskau. Putins absurde Vorträge zur Geschichte sind nur halb so absurd, wenn man berücksichtigt, dass seine Sicht der Dinge bis heute in Deutschland ernsthaft diskutiert wird. In diesen Erzählungen hat die Ukraine eine problematische Geschichte, die einzig aus Judenhass und Kollaboration mit den Nazis bestanden habe; ein aggressiver Nationalismus hätte von der Sowjetunion eingedämmt werden müssen. Hier „passiert“ ein merkwürdiger logischer Fehler: Die Ukraine gehörte bekanntlich zur Sowjetunion, aber heute wird so getan, als sei nicht sie das Zentrum des Vernichtungskrieges gewesen und habe nicht sie den höchsten Blutzoll gezahlt. Dass es Kollaborateure gab, wie überall in den Republiken der Sowjetunion, die unter Stalin der Russifizierung unterworfen wurden, soll als Beweis gelten, dass es der starken Hand bedurfte und bedarf, um die „Ukro-Nazis“ unter Kontrolle zu halten. Wer will heute schon wissen, dass die Unabhängigkeitserklärung der Ukrainischen Volksrepublik im Januar 1918 in vier Sprachen veröffentlicht wurde: Russisch, Polnisch, Ukrainisch und Jiddisch? Das Ende des Zarenreichs war nicht allein eine russische, es war eine ukrainische, georgische, lettische usw. Revolution; allein die Ukraine jedoch gab der Nation den Vorrang vor dem Volk. Die Bedeutung der Sprache(n) wurde evident: das Georgische etwa wurde im Russischen als Sprache der Hunde diskriminiert; die Bedeutung der Sprachen wurde am Ende des ersten Weltkrieges ein zentraler Aspekt der nationalen Emanzipation von der russischen Kolonialisierung.

Die kurze Phase der Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik endete in einem Blutbad. Da es der neuen Regierung nicht gelang, staatliche Strukturen zu etablieren und sie sich nicht darüber einigen konnte, wie unabhängig die Ukraine wirklich werden sollte, wurde das Gebiet der Ukraine zum Schauplatz eines blutigen Kriegs konkurrierender Banden: der „weißen“ Legionen, die die Wiederherstellung der Monarchie forderten; ukrainischer Nationalisten, die ebenfalls ein an der alten Rus orientiertes Feudalsystem wollten; verschiedener „grüner“ Banden, die vor allem aus Bauern bestanden und schlicht die Abwesenheit eines staatlichen Gewaltmonopols ausnutzten; hinzu kamen bis zum November 1918 deutsche und österreichische Truppen; ab 1919 polnische, französische und englische Armee-Einheiten und nicht zuletzt verschiedene Formationen der bolschewistischen Fraktionen, die zu diesem Zeitpunkt alles andere als einig waren. Die bürgerlichen und sozialdemokratischen Kräfte der Ukraine, die zunächst die Mehrheit in der Rada, dem ukrainischen Parlament, hatten, fanden zu keiner gemeinsamen Position, weil in dieser Gemengelage kaum klar wurde, wer als Bündnispartner taugte. In der Folge übernahmen die radikalen Nationalisten zeitweise, was von der Staatsmacht übrig war; die linken und bürgerlichen Kräfte gingen ins Exil oder schlossen sich den Bolschewisten an. Die Bevölkerung der Ukraine war jahrelang ständigen Machtwechseln ausgeliefert, in Kiew wechselte die Regierungsgewalt allein 1919 dreizehnmal. Die ohnehin schon von Pogromen während der Jahre 1914–1917 heimgesuchte jüdische Bevölkerung aber zahlte den größten Blutzoll im größten Massenmord vor der Shoah: 150.000 Juden wurden während des Bürgerkriegs ermordet.

Ukrainische Renaissance

In den Jahren nach dem Ende des Bürgerkrieges 1921 erlebte die Ukraine eine wenige Jahre dauernde Wiedergeburt, und mit ihr die Renaissance der Sprache, der Kunst und Literatur. Die Ukraine hatte für führende Bolschewisten wie Lenin und Trotzki die gleiche Bedeutung wie Polen im 19. Jahrhundert für die erste Internationale, die nationale Souveränität sollte nach Jahrhunderten der Teilung und Unterdrückung eine eigenständige Entwicklung des Klassenwiderspruchs und des Wegs zum Sozialismus ermöglichen, allerdings unter sowjetischen Bedingungen. Für die Juden und insbesondere für das Jiddische begann nun ebenfalls eine Zeit der Blüte, Kiew wurde zu einem Zentrum der jüdischen Intellektuellen. Nach dem ersten Weltkrieg war die Ukraine aufgeteilt worden, der Westen gehörte weitgehend zu Polen. Die polnische Regierung unter Pilsudski führte eine radikale Nationalisierungspolitik durch, die sich gegen alles Ukrainische richtete – der radikale Nationalismus des Stepan Bandera wurde hier geboren, nicht in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Noch bis Ende der 1920er Jahre kandidierten ukrainische und jüdische Parteien auf gemeinsamen Listen.

Bis 1934 war Charkiw im Osten die Hauptstadt und das künstlerische und literarische Zentrum der Ukraine. Im Haus des Wortes, dem Budynok Slowo, das in den 1920er Jahren im Stil der sowjetischen Moderne errichtet wurde, fand die ukrainische Renaissance ihre Unterkunft. Es gab nicht nur Veranstaltungssäle und einen Verlag, viele Künstler und Literaten lebten auch dort. Die Leninsche Ukrainisierung, die heute von Putin so beklagt wird, fand hier ihren Ort. Wer weiß heute noch von Mykola Khvyliovy, Dmytro Zahul, Mykola Zerov, Maxime Rylski, Mykhaïlo Draï-Khmara, Hryhoriy Kossynka, Volodymyr Sossioura, Vassyl Ellan-Blakytny, Maïk Johansen, Serhiy Pylypenko, Volodymyr Koriak, Pavlo Tytchyna, Mykhaïlo Verykivsky, Borys Antonenko-Davydovytch, Hryhoriy Kossynka, Maria Halytch, Ievhen Ploujnyk, Valérian Pidmohylny oder Todos Osmatchka? Die Renaissance endete in den 1930er Jahre brutal, als zwischen 1931 und 1937 über 300 Künstler und Literaten im Rahmen der Säuberungen ermordet wurden und mehr als 50.000 weitere ukrainische Intellektuelle in den Gulags verschwanden. 1957 gaben ukrainische Exilanten in Paris unter dem Titel La renaissance fusillée – die hingerichtete Renaissance – einen Sammelband mit Werken von ermordeten Künstlern heraus und damit diesem kurzen Zeitabschnitt einen Namen. Diese Künstler und Literaten vertraten keineswegs eine reaktionäre oder gar völkische Linie, sie waren Surrealisten, Futuristen, Expressionisten, aber sie begriffen sich als Ukrainer und ihre Sprache war ukrainisch. Ihre Verfolgung und Ermordung war der konsequente Endpunkt des Stalinschen Vernichtungsprojekts gegen die Ukraine als Nation.

Es wird darüber gestritten, ob die Hungersnot Anfang der 1930er Jahre ein Völkermord war oder nicht; ob es nicht eine Anmaßung der Ukrainer sei, sie Holodomor zu nennen – in Anklang an den Holocaust. Dass Einwohner Charkiws die Wehrmacht zunächst mit Salz und Brot begrüßten, könnte nicht allein als Hinweis auf eine pro-deutsche Haltung zu verstehen sein, sondern vor allem als anti-russisches Ressentiment. Wer das perverse Zusammenspiel der kommunistischen und nationalsozialistischen Mordaktionen gegen die osteuropäischen Nationen während des 2. Weltkriegs nicht zur Kenntnis nehmen will, sollte jedenfalls nicht den Antisemitismus aufrechnen wollen, der sie alle einte. Dass es in Deutschland nach 1945 bis heute so zwanglos weitergehen konnte, hat nicht zuletzt mit der Tatsache zu tun, dass die Massengräber sich anderswo befanden.

Mit dem Sieg Stalins in den innerparteilichen Auseinandersetzungen der KPdSU nach Lenins Tod begann in den späten 1920er Jahren das Ende der ukrainischen Autonomie. Die mit der Zwangskollektivierung auf dem gesamten Gebiet der Sowjetunion einhergehenden Hungersnöte wurden in der Ukraine, der traditionellen Kornkammer des russischen Reiches, gezielt verschärft: Die Bewegungsfreiheit der Bauern wurde eingeschränkt, sodass sie nicht in der Lage waren, anderswo nach Essen zu suchen, und Ende November 1932 beschloss das ZK der Kommunistischen Partei der Ukraine unter Molotow die Verhängung von „Naturalienstrafen“, wie sie schon aus den Zeiten der Leibeigenschaft im zaristischen Russland bekannt waren. In der Durchführung bedeutete dies die gezielte Plünderung nicht nur von Ernten, sondern auch von Haushalts- und Gebrauchsgegenständen. Ausdrücklich zielten diese Maßnahmen auf die unterstellte Widerständigkeit der ukrainischen Bauern, der „Kulaken“. Der in den 1960er Jahren im Exil entstandene Begriff Holodomor, der etymologisch nichts mit dem Holocaust zu tun hat, sondern eine Zusammensetzung aus den Worten holod (ukrainisch Hunger) und moriti (tschechisch qualvoll töten) ist, also etwa gezielte Tötung durch Hunger bedeutet, trifft die Tatsache recht genau. Die Anerkennung des Holodomor als Völkermord ist für die Ukraine ein wichtiges Anliegen, so soll die Kollaboration eines Teils der ukrainischen Bevölkerung mit den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs als eine Reaktion auf die russischen Verbrechen verstanden werden. Ob mit der Anerkennung des Holodomor als Genozid ein differenzierter Blicks auf die Geschichte gelingt, muss man bezweifeln, denn noch heute gelten unter den osteuropäischen Staaten gerade Polen, die Ukraine und die baltischen Länder als Gebiete, in denen die Deutschen die Bevölkerung geradezu stoppen mussten, nicht noch radikaler vorzugehen als ohnehin von ihnen geplant.

Nation auf Massengräbern

Für Lemberg trifft das zu: Hier marschierten die Deutschen gemeinsam mit den ukrainischen Nationalisten am 30. Juni 1941 ein und veranstalteten zunächst ein Pogrom, dem hunderte Juden zum Opfer fielen. In den Tagen zuvor hatten ukrainische Untergrundkämpfer einen Aufstand versucht, weil die sowjetische Verwaltung – Lemberg war im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts an die SU gefallen – gleich nach dem Einmarsch in die SU am 22. Juni zunächst geflohen war. Der NKWD kehrte jedoch kurzfristig zurück und machte dem Aufstand ein Ende, bevor man sich endgültig zurückziehen musste. Als die Deutschen und ihre ukrainischen Handlanger ankamen, fanden sie an die 4.000 Leichen in den Gefängnissen vor. Die Ukrainer machten die „jüdischen Bolschewisten“ für den Massenmord verantwortlich und griffen damit auf die Propaganda des Bürgerkriegs zurück. Zusammen mit der Ausrufung eines ukrainischen Staates begann der Pogrom, der in seiner Grausamkeit selbst einige Deutsche anwiderte. Dieser ukrainische Staat sollte im Unterschied zum kroatischen Ustascha-Staat aber eine Schimäre bleiben. Unter der deutschen Besatzung wurden fast alle der 150.000 Lemberger Juden ermordet. Die ukrainischen Nationalisten überwarfen sich schon bald mit den Deutschen, was sie nicht daran hinderte, weiter gegen Juden und dann bevorzugt Polen, aber auch gegen Ukrainer vorzugehen, die nichts mit ihrer Idee von ethnischer Reinheit und Kosakenromantik zu tun haben wollten. In Kiew waren die Ethnonationalisten am Massaker von Babyn Jar beteiligt: Nur zwei Tage nach der Eroberung der Stadt nach einer fast sechswöchigen Schlacht wurde nach einem Anschlag in der Innenstadt die verbliebene jüdische Bevölkerung, deren Großteil geflohen war, aufgerufen, an Sammelpunkten zu erscheinen. Von dort wurden sie in eine Schlucht in der Nähe der Stadt geführt, über 33.000 Juden wurden erschossen. Für die Propaganda und Hilfeleistung waren die Ukrainer zuständig, aber genützt hat es ihnen nicht: Viele von denen, die zuvor noch von einer faschistischen Ukraine ­träumten, wurden wenige Monate später von den Deutschen erschossen, einige sogar in Babyn Jar. Stepan Bandera landete im KZ Sachsenhausen.

Nach der Befreiung von den Deutschen wurde in der Sowjetunion und den realsozialistischen Staaten der Juden nicht als Juden, sondern als Sowjetbürger gedacht, wie auch den Ukrainern oder den Angehörigen anderer Sowjetnationen – der Massenmord an den Polen wurde verschwiegen. Wenn die Kollaboration nationalistischer Ukrainer zum Thema wurde, dann allein deren Antikommunismus und deren Nähe zu den Nazis. Damit entstand nach dem Ende der SU eine paradoxe Situation, von der Putin und die RF heute profitieren: Plötzlich war die SU wieder Russland und also waren alle sowjetischen Opfer des deutschen Massenmords im Osten demnach Russen. Und alle Kollaborateure waren folglich Nationalisten ihrer jeweiligen Länder, die nun ihre Unabhängigkeit wieder erlangten. Die RF hat sich die „guten“ Aspekte des „Großen Vaterländischen Krieges“ zu eigen gemacht und die „bösen“ den abtrünnigen Neugründungen zugeschoben. Das hinderte Putin allerdings nicht daran, die sterblichen Überreste des Anführers der „Weißen“ und Verantwortlichen für die organisierten Pogrome des Bürgerkriegs in der Ukraine, Anton Denikin, 2005 von den USA nach Moskau überführen zu lassen, denn über die Juden wird nur gesprochen, wenn die Antisemiten die anderen – etwa Ukrainer, Polen oder Letten – sind. Den ukrainischen Nationalismus auf Bandera zu reduzieren, ist lange Zeit geglückt, obwohl die weltweite Dias­pora, vor allem in Kanada (Quebec) und Frankreich, wo sie sehr stark war, mehrheitlich sozialdemokratisch orientiert war. Durch die Stalinschen Verfolgungen, den Holodomor, den deutschen Vernichtungskrieg und das Schweigen danach waren die Spuren anderer Linien verschüttet worden. Es war, anders als in Deutschland und weiten Teilen des besetzten Europas, ganze Arbeit geleistet worden, zur Unabhängigkeit 1991 musste die Ukraine erst einmal selbst beginnen, die Massengräber auszuheben – zum Teil im wörtlichen, zum Teil im metaphorischen Sinn. Erst jetzt, mitten im Krieg, wird begonnen, die ukrainische Renaissance zu erforschen: Biografien werden zusammengestellt, Bücher neu herausgebracht, vor allem aber, neue Bücher geschrieben, auch wenn sie derzeit nur im Ausland gedruckt werden können. Der russische Angriff richtet sich aber auch gezielt gegen diese Ausgrabungen: In Charkiw wurde am Anfang des Krieges das Denkmal für die 16.000 in der Drobyzkyj Jar ermordeten Juden zerbombt, das Haus des Buches wurde gleich mehrfach angegriffen; in Tschernihiw wurden die Archive des NKWD und des KGB verbrannt, in denen die schriftlichen Belege für die stali­nistische Verfolgung zu finden waren; in allen besetzten Gebieten werden Gedenktafeln abgeschlagen, Bücher verschwinden aus Bibliotheken, und keineswegs nur die der „Ukro-Nazis“. So kommt es, dass gerade jene russischsprachigen Großstädte im Norden und Osten der Ukraine zu antirussischen Zentren werden, auch wenn die Leute dort weiter russisch sprechen, wie etwa in Charkiw, und sei es, weil sie ukrainisch gar nicht können.

Verschüttete Spuren

Polen und die Ukraine begannen mitten im Krieg eine Verständigung über die Massaker in Wolhynien und Galizien, und zwar nicht ganz freiwillig: es sei notwendig geworden, weil diese Karte ­ansonsten immer von den Russen ausgespielt werde (sei es, um die Ukrainer als Nazis abzukanzeln oder den Polen als Kolonisatoren und Besatzer darzustellen), wie der polnische Ministerpräsident Morawiecki bemerkte. Anlässlich des 80. Jahrestages der großen Massaker von 1943, bei denen ukrainische Nationalisten insgesamt 100.000 Polen grausam ­abschlachteten, trafen sich Anfang Juli der polnische Präsident Duda und Selenskyj in Luzk, um gemeinsam der Opfer zu gedenken. Eine deutlichere Abgrenzung von den radikalen Nationalisten, die die Kollaboration mit den Deutschen nach wie vor beschönigen, hatte es von staatlicher ukrainischer Seite bislang nicht gegeben. Als am 1. Jänner 2021 etwa 1.000 Menschen zum Gedenkmarsch für Bandera kamen, dessen Organisation für die Massaker hauptverantwortlich ist, wurde nicht nur deutlich, dass es diese vor allem in der Svoboda-Partei repräsentierte Sichtweise in der Ukraine auch heute noch gibt, vielmehr konnte man an der geringen Teilnehmerzahl ablesen, dass diese Sichtweise zurzeit nicht besonders relevant ist.

Nach dem Ende der Sowjetunion wanderten viele Juden, die in der Ukraine lebten, in die USA, nach Israel oder Westeuropa aus. Weil „Jude“ als ethnische Bezeichnung in der SU im Pass stand, gab es keine ukrainischen Juden, nur sowjetische. Derzeit leben etwa 70.000 Juden in der Ukraine, sehr viel mehr sind es, wenn man diejenigen mitzählt, die nicht in den Gemeinden organisiert sind, wie etwa den Präsidenten und seine Eltern. Sie gelten dennoch als Juden, auch wenn nicht klar ist, ob sie sich als solche verstehen, – hier spielt das sowjetische Erbe noch eine große Rolle. Eine Welle antisemitischer Propaganda gab es in den Jahren 2006 bis 2008, aber damals interessierte sich noch niemand für den Antisemitismus in der Ukraine; die meisten Vorfälle ab 2014 werden von Vertretern der jüdischen Gemeinden als russische Aktionen unter falscher Flagge verbucht. Selbstverständlich lösen antisemitische Übergriffe oder Anschläge Erinnerungen an die Grausamkeiten aus, die durch den deutschen Vernichtungskrieg ermöglicht wurden, aber aufgrund ihres Vorkommens darauf zu schließen, dass in der Ukraine heute die gleichen Kräfte am Werk wären wie damals, verdrängt nicht nur, dass es gerade in der Ukraine jene Kontinuität, von der man in Bezug auf Deutschland, Westeuropa und selbst in Polen durchaus sprechen kann, eben nicht gibt – der Vernichtungskrieg war eben ein Vernichtungskrieg, der die Kontinuität abgebrochen hat. Historische Bezüge sind deswegen kein Beleg für irgendwelche Kontinuitäten, sie sind Reminiszenzen, Zitate und manchmal lediglich Kostümierungen.

Als Selenskyj kaum einen Monat nach Beginn des Versuchs der vollständigen Invasion der Ukraine in seiner Rede vor der Knesset den russischen Angriff mit dem Holocaust verglich, gab es viel Widerspruch, die seine Kritik der Neutralität Israels unsichtbar machte. Dass viele Juden aus der Sowjetunion, unabhängig davon, woher sie kommen, russophil sind, hat mehr mit der Zeit nach 1945 zu tun – dem oben beschriebenen russischen Märchen. Kurz nach der Invasion wanderte der russische Oberrabbiner aus, weil er die Lügen der Propaganda nicht vertreten wollte. Seitdem zieht ein unaufhörlicher Strom von russischen Juden in jene Länder, in denen die Einwanderung aus Russland noch möglich ist. Die israelische Position hat genau damit zu tun: Man kann es sich, trotz der engen Zusammenarbeit Russlands mit dem Iran, nicht leisten, Russland zu verprellen, um die jüdische Bevölkerung weltweit und insbesondere die eigene gegen Hisbollah, Hamas und PLO zu schützen. Erstaunlich, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, den Anstieg der antisemitischen Gewalt in Israel der letzten eineinhalb Jahre mit dem Überfall auf die Ukraine in Verbindung zu bringen – während umgekehrt der Widerstandswille der Ukraine durchaus im Iran und in Syrien von oppositionellen Kräften wahrgenommen und genutzt wurde. In diesem Zwiespalt bewegt sich Israel, das zerrissen ist zwischen jenem zivilisatorischen Auftrag, an den Selenskyj appellierte, und dem Kampf ums Überleben.

Die Zerbrechlichkeit des Wahren

Dennoch ist die Frage, welchen Kampf die Republik der Ukraine führt, eine ums Ganze: Wie man es nennt – regionaler Krieg oder kolonialer Vernichtungskrieg –, entscheidet, wie kann es anders sein, über die Positionierung zur Ukraine und die Bedeutung, die diesem „Konflikt“ zugemessen wird. Wer das Ausmaß des Schreckens beschwört, das der ukrainische Nationalismus mitzuverantworten hat und zugleich betont, wie egal ihm die nationale Identität usw. sei, verwickelt sich in einen Widerspruch: Indem man den Nationalismus als Teufelswerk beschwört, bestätigt man, dass es ihn als Kategorie von kollektiver Identität gibt. Das Bekenntnis, gegen jeden Nationalismus zu sein, ist billig zu haben und hat, seit es deutsches Regierungsprogramm ist, vor allem Israel geschadet und schadet aktuell der ukrainischen Nation. Gerade weil hier sehr grundlegende Begrifflichkeiten im Spiel sind, besteht die Gefahr, dass auf der Grundlage von Überzeugungen geurteilt wird und historische Tatsachen um einer höheren Wahrheit willen instrumentalisiert werden, die sich mal als palästinensisch, mal als russisch erweist. Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass die sowjetischen Geschichten, die man selbst gern geglaubt hat, eine einzige Lüge sind, dass es einen Sozialismus genauso wenig gegeben hat wie den Schutz der Juden im Zeichen sowjetischer Hegemonie. Die Gleichzeitigkeit, mit der Putin sowohl die Gründung der SU als auch ihren Untergang abwechselnd als die größte Katastrophe bezeichnet, gibt einen Hinweis darauf, dass historische Wahrheiten schwer erkauft sind. Dass die SU für viele – den Autor eingeschlossen – einmal eine große Hoffnung darstellte, ist das eine. Das andere ist die Scham darüber, dass man das russische Märchen selbst geglaubt hat. Ohne die Überwindung dieser Scham wird man zu einem Begriff des Krieges und einer Solidarität mit der Ukraine nicht gelangen können.

Tatsächlich befinden wir uns, seit Auschwitz, in einem Zeitalter des Völkermords – der Völkermord an den Armeniern ebenso wie die Pogrome des Bürgerkrieges in der Ukraine waren ein Vorschein einer sich entfaltenden Zuspitzung des Mordens um des Mordens willen. Vor Auschwitz gab es zahlreiche Völkermorde, daran soll der Begriff der Präzedenzlosigkeit erinnern. Die ideologischen Voraussetzungen aber kehren wieder – wie etwa im Falle von Ruanda, wo das Morden nicht industriell organisiert vor sich ging, sondern eher an das Abschlachten von Juden und Polen in Galizien in den Jahren 1941 bis 1944 erinnert. Dennoch fungierte Auschwitz wie eine Blaupause für die Massenmorde der Gegenwart und Zukunft. Die Beschwörung eines Nach Auschwitz droht zur Religion zu werden, der es einzig um die Aufrechterhaltung eines Tabus um Auschwitz zu tun ist: Denn es wird eifrig darüber gewacht, dass nichts wie Auschwitz sein könne. Das trifft insofern zu, als es geschehen ist, aber eben deshalb trifft es auch nicht zu, weil es geschehen konnte und folglich wieder geschehen kann. Die Grundbedingung des Denkens, dass Auschwitz in der Welt ist, zum Ausgangspunkt zu nehmen, also „dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ (6), heißt ja, dass Ähnlichkeiten mit anderen Massenmorden zu prüfen und abzuwägen sind. Die Frage, ob es sich beim russischen Krieg gegen die Ukraine um ein völkermörderisches Projekt handelt, ist angesichts einer ganz und gar nicht postideologischen Kraft, die bereit ist, den letzten Dreck für wahr zu halten, bitter notwendig. Denn es geht nicht um die Identität der Ukrainer, um Sprache oder Brauchtum, sondern um die Definition von Bestrebungen, die auf die Unterwerfung und Vernichtung anderer trachtet. Dazu bedarf es einer Kritik, die im Sinne der Negativen Dialektik die „Zerbrechlichkeit des Wahren“ in den Blick nimmt und danach fragt, wie das, „was einmal Dogma und Bevormundung durch Selbstgewissheit überholen wollte, […] zur Sozialversicherung einer Erkenntnis, der nichts soll passieren können“ (7) hat werden können. Im Fall der Ukraine werden die historischen Massengräber zur Abschottung – Sozialversicherung – vor der erklärten Absicht Putins genutzt, die Ukraine als Nation auszulöschen. Das Vorgehen der russischen Besatzer, die mit vorgefertigten Listen kommen oder Leute gleich einfach so erschießen, das Plündern und das Vergewaltigen zeigt, wie er das ins Werk setzen will – all das ist nicht Auschwitz, aber es könnte Ähnliches werden, wenn die Ukraine sich nicht wehren kann. Und derzeit kann sie sich wehren, weil sie sich als republikanische Nation begreift. Der Ukraine die Solidarität zu verweigern, weil sie historisch „unrein“ ist, erinnert an jene linken Israelfreunde, die aktuell ihre Haltung zum jüdischen Staat wegen der sogenannten Justizreform zu überdenken drohen und früher schon Anlass fanden, Bedingungen für ihre Solidarität zu stellen. Solidarität hat aber grundsätzlich nur peripher etwas mit den Angegriffenen zu tun; sie bestimmt sich immer negativ an den Zielen der Angreifer, gegen die es die Angegriffenen zu verteidigen gilt. Diese Ziele hat Putin erstens klar in mehreren Reden formuliert, sie finden sich zweitens jeden Tag in den Nachrichten, wenn man lesen kann, wie militärische Ziele wie Schulen, Theater oder Supermärkte bombardiert und tausende Kinder nach Russland verschleppt werden.

Das beredte Schweigen vieler Ideologiekritiker zum russischen Untergangskult, zur irren Tatsache, dass die russischen Propagandisten nichts zu bieten haben außer der Vernichtung der Ukraine, bedeutet Zustimmung zu einem Werk der Zerstörung, dem keinerlei positive Bestimmung mehr innewohnt und das Chaos um der Macht willen produziert. Leuten, denen die Zuschreibung, jemand sei ein Antideutscher, gleichbedeutend ist mit Kapitulant, Speichellecker, Opportunist – den altbekannten Beleidigungen aus der Stalin-Orgel – kommt alles gelegen, ob es in Frankreich, Neukölln, dem Niger oder der Ukraine geschieht, gleich wer da agiert, solange es zum Untergang des Westens (der eigentlich ja gerade wegen Corona endgültig untergegangen ist, aber egal) beiträgt. Solidarität mit der Ukraine in ihrem Selbstverständnis als multiethnische Nation, die eine Republik sein will und den verblichenen Werten des Westens anhängt, hat dagegen die Erkenntnis zur Voraussetzung, dass dieser Krieg einen zerstörerischen Angriff auf die ohnehin labilen rechtsstaatlichen Normen weltweit darstellt, mit dem Ziel, jedes Individuum der Willkür des jeweils Stärkeren zu überantworten; nichts anderes bedeutet Putins Propaganda von einer „multipolaren Weltordnung“. Mit einem solchen Angriff konfrontiert, ist dem denkenden Einzelnen, der keine Sehnsucht nach Kollektiv oder Bande verspürt, keine Gleichgültigkeit erlaubt.

Tjark Kunstreich (Bahamas 92 / 2023)

Anmerkungen:

  1. Der Herbst 1977 ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein Ausnahmezustand hergestellt und wieder aufgehoben wurde, ohne jemals zurückzukehren. Man braucht nicht mit der RAF zu sympathisieren, um zu erkennen, dass der Staat nicht adäquat, sondern panisch reagiert hat: Die Rückkehr zum wie auch immer kritikwürdigen Normalzustand war dennoch möglich.
  2. Allein dort, wo es die Bezeichnung Korruption überhaupt gibt, ist ihre Bekämpfung möglich. Das ist weder in Russland noch im Iran beispielsweise der Fall, das Recht dort ist pervertiert; es sichert nicht einmal das Privateigentum.
  3. https://vogue.ua/article/vogueuainenglish/how-ukrainepride-helps-the-territorial-defense-the-azov-regiment-in-mariupol-the-lgbt-military-and-more-48580.html
  4. https://newlinesmag.com/first-person/mother-tongue-the-story-of-a-ukrainian-language-convert/
  5. https://uacrisis.org/de/30-years-of-ukraine-s-independence-highlights-from-president-zelenskyi-s-address-to-the-nation
  6. Th. W. Adorno: Negative Dialektik, GW Bd. 6., 358, Hervorhebung von mir
  7. ebd., 45

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